Heute, am 10. Dezember, dem Todestag von Alfred Nobel, werden in Stockholm die Nobelpreise verliehen. Der Preisstifter Alfred Bernhard Nobel (1833 bis 1896) hatte in seinem Testament verfügt, dass mit seinem Vermögen eine Stiftung eingerichtet werden solle. Alfred Nobel war ein genialer Entdecker, der beispielsweise mit der Erfindung des Dynamits einen sagenhaften Reichtum anhäufen konnte. Die Zinsen aus seinem Vermögen sollten als Preise denjenigen überreicht werden, die der Menschheit während eines vergangenen Jahres den grössten Nutzen gebracht hatten. Traditionsgemäss wird die Auszeichnung in den Bereichen Physik, Chemie, Wirtschaft, Medizin und Literatur verliehen. Im Bereich der Literatur wurden an diesem 10. Dezember 2019 gleich zwei Nobelpreise ausgelobt. Der Literatur-Nobelpreis 2019 ging an Peter Handke, und – weil wegen eines Sexskandals die schwedische Akademie letztes Jahr handlungsunfähig war – der Literatur-Nobelpreis 2018 ging an die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk. Über Peter Handke ist ist schon viel geschrieben worden (vgl. auch meine Blog-Geschichte vom 14. Oktober 2019). Wer aber ist Olga Tokarczuk? Und was hat sie geschrieben?
Antisemitismus und die Ermordung von Juden. Mit einem richtigen „Schunken“, einem 1184 Seiten starken Werk, ist es Olga Tokarczuk gelungen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich und auf ihr Schaffen zu lenken. Das Werk trägt den Titel „Die Jakobsbücher“, und es ist ein Sammelsurium ihrer bisherigen Arbeit als Schriftstellerin. Das Nobelpreis-Komitee der Schwedischen Akademie lobte ihre „erzählerische Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform“ repräsentiere. Sowas hört sich kompliziert an, und es ist tatsächlich nicht so einfach, „Die Jakobsbücher“ auch nur annähernd zu verstehen, einzuordnen und zu rezensieren. Vor allem sind „Die Jakobsbücher“ eine Abrechnung mit einem der dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte. Zu den europäischen Ländern, die sich Antisemitismus vorwerfen lassen müssen, gehört laut Tokarczuk auch Polen. Ihr Buch räumt auf mit der heldenhaften Darstellung Polens. In unzähligen bisherigen Werken wurden die Polen ausschliesslich als Opfer eines Vernichtungskrieges dargestellt, aber nie als Täter. Anders nun in den „Jakobsbüchern“ von Olga Tokarczuk. Darin und in Gesprächen über das Buch schockierte die Autorin die polnische Öffentlichkeit mit der Aussage, dass auch die Polen Juden ermordet hätten. Zudem seien auch die Polen bei der Kolonialisierung des Ostens als Diktatoren aufgetreten, unter denen die Landbevölkerung wie Sklaven hätten Frondienst leisten müssen. Es ist einleuchtend, dass Olga Tokarczuk, die polnische Psychologin, mit derartigen Aussagen in ihrem Heimatland die nationalistischen Fanatiker auf den Plan rief. Nach der Veröffentlichung der „Jakobsbücher“ im Jahr 2014 wurde Tokarczuk in ihrem Heimatland Polen verschiedentlich mit dem Tode bedroht.
Persönliche Verarbeitung. Die grossartig ins Deutsche übersetzten „Jakobsbücher“ kann nur verstehen, wer sich einen persönlichen Zugang zur jüdischen Geschichte verschafft. Um die Jahrtausendwende war ich in Jerusalem, ich stand fassungslos und zutiefst beeindruckt an der Klagemauer (Bild) und erst dort wurde mir mit aller Eindringlichkeit bewusst, wie sehr die jüdische Geschichte auch unsere Geschichte ist. Jüdische Geschichte ist auch europäische Geschichte. Was mir persönlich an der Klagemauer in Jerusalem bewusst wurde, das drang ganz ähnlich auch ins Bewusstsein von Olga Tokarczuk: Sie konfrontiert uns Leser mit einer völlig überraschenden polnischen Geisteshaltung, wie sie um 1800 festzustellen war. Um diese Geisteshaltung zu definieren und zu beschreiben, verbrachte die Autorin sechs Jahre in Antiquariaten, und sie stellt nun mit ihren Recherchen die bisherige Geschichtsschreibung in Frage.
Die Geschichte eines jüdischen Mystikers. In den „Jakobsbüchern“ setzt die Autorin wie in einem Mosaik die Geschichte von Jakob Frank, einem jüdischen Mystiker, zu einem Gesamtbild zusammen. Jakob Frank war eine Persönlichkeit, die polarisierte. Für seine Kritiker war er ein Ketzer, für seine Bewunderer war er ein Heilsbringer. Geboren als Jude tritt Jakob Frank zunächst zum Islam über, später dann wird er mit allen seinen Getreuen zum Christentum konvertieren. In den „Jakobsbüchern“ entzieht sich Jakob Frank dem Verständnis und dem Zugriff der Leserinnen und Leser. Jakob Frank bleibt gefangen inmitten von Figuren, welche einen philosophischen, soziologischen, theologischen und kulturgeschichtlichen Rahmen für Jakob Franks Geschichte abgeben.
Jenta als Rahmenfigur. Jüdische Geschichte ist auch europäische Geschichte. Mit einem Roman ist der jüdischen Geschichte kaum beizukommen. Zu ausufernd ist die Verquickung von jüdischer und europäischer Geschichte. Deshalb suchte die Autorin nach einer dramaturgischen Lösung, es musste dringend ein Rahmen her für die Erzählung von Jakob Frank. Deshalb konstruierte die Autorin die Figur der Jenta. Für den Leser eröffnen sich mit Jenta neue Perspektiven. „Jenta sieht alles“, heisst es. Die Autorin hat dieser neuen Perspektive, personifiziert durch Jenta, den Namen „vierte Person“ gegeben. Jenta, die „vierte Person“, kann fast alles. Jenta beherrscht die Struktur und den Aufbau des Romans. Jenta ist überirdisch und metaphysisch. Jenta ist es sogar möglich, aus dem Buch herauszukommen.
Leseprobe: „Jenta erwacht. Dabei war sie schon so gut wie tot gewesen. Von irgendwoher tauchen Hände auf – die grossen Hände des alten Schor, sie suchen ihren Hals, schieben sich unter die Decke. Ungeschickt versucht er, den kraftlosen Körper auf die Seite zu drehen, er will sehen, ob das Laken unter ihrem Leib etwas verbirgt. Von diesen Bemühungen spürt Jenta nichts, nur die Wärme nimmt sie wahr, die Anwesenheit des bärtigen, schwitzenden Mannes. Und plötzlich, als hätte es einen Schlag getan, sieht Jenta alles von oben – sich selbst im Bett, die kahle Stelle auf dem Kopf des alten Schor, denn über die Geschäftigkeit mit ihrem Körper ist ihm die Mütze vom Scheitel gerutscht. Von nun an bleibt es so – Jenta sieht alles.“
Text und Fotos: Kurt Schnidrig