Am 24. Dezember 1995 waren wir in Bethlehem. Mit grenzenlosen Erwartungen waren wir ins Heilige Land aufgebrochen. Wir suchten den Stall, die Hirten und das Christkind mit den Seelen unserer Kindheit. Es war jene Weihnacht, als Bethlehem palästinensisch wurde. Aus Angst vor Terroranschlägen waren nur wenige Ausländer gekommen. Die Israeli hatten sich in Bethlehem rar gemacht. Bethlehem war erstmals ganz in arabischer Hand. Nein, wir fanden nicht jene Weihnachtslandschaft vor, die wir uns erträumten. In diesem Schmelztiegel von Völkern und Religionen wurde an diesem Heiligabend des Jahres 1995 ein neues Kapitel Weltgeschichte aufgeschlagen. Der seit mehr als 50 Jahren andauernde Nahost-Konflikt sollte um eine neue Dimension reicher werden. Friede? Nein, ein Friede konnte das noch nicht sein…
Die Nacht von Bethlehem. 24. Dezember 1995, 17.30 Uhr. Die Maschine der israelischen Fluggesellschaft ELAL setzt über Tel Aviv zur Landung an. Mein Gott, was wollen wir hier in diesem Land? Was wollen wir in Israel? Ich denke an unsere traditionellen Weihnachten. Zum ersten Mal seit Jahren haben wir keine Tanne geschmückt, wir haben kein Weihnachtsessen bereitet und auch in der Christmesse werden wir fehlen. Der Stall von Bethlehem, die wunderschöne Weihnachtskrippe, sie liegt verschnürt auf dem Dachboden.
Weihnachtsabend. Es ist 17.00 Uhr. Die Heilige Nacht bricht an. Wir werden Heiligabend in Bethlehem verbringen. Flughafen Ben Gurion. Palmen, Sauberkeit und ein frischer Geruch nach Meer lässt so etwas wie Ferienstimmung aufkommen. Wir besteigen den Bus nach Bethlehem. Unser Fahrer heisst Chaim und Chaim heisst Leben. „Ich hoffe, wir sind Ende der Woche noch am Leben“, meint unsere spitzzüngige jüdische Reisebegleiterin.
Am Checkpoint eingangs von Bethlehem. Lustlos und mürrisch lassen die Soldaten der israelischen Armee unseren Bus passieren. Wenig später eine Strassensperre der Palästinenser. Die Soldaten sind kaum bewaffnet und klatschen uns Beifall. Wir sind in Bethlehem. Es ist ein grün-weiss-rotes Bethlehem. Der Ort unserer Kinderträume entpuppt sich als eine lärmige Festhütte.
„You’re welcome!“ – Bethlehem geht in die palästinensische Autonomiebehörde über, erklärt Lea, die jüdische Begleiterin. Die Erklärung war unnötig. Denn Palästinenserführer Arafat ist omnipräsent. Arafat auf Plakaten, Arafat auf Litfasssäulen, Arafat als aufblasbare Puppe. Vor dem Hotel „Paradise“ springt ein Junge mit einer Spielzeugpistole vor unseren Reisebus. Einige zucken zusammen, andere lachen. Das Hotel Paradise ist weihnachtlich dekoriert. Wir bewohnen zwei riesige Zimmer mit Blick auf die Strasse, die zur Geburtskirche hinaufführt. Bethlehem blinkt und leuchtet. Flackernde Kerzen an Weihnachtsbäumen, glimmende Sterne und Engel an Strassenlaternen.
Bethlehem in rotweissgrün. Immer wieder Arafats, aufblasbare Arafats, und immer wieder rotweissgrün. Autos rasen vorbei, auf deren Heck sitzen rotgewandete Weihnachtsmänner und schwenken lärmig hell klingende Glocken. Ein kaum enden wollender Strom von Autos rollt in Richtung der Geburtskirche. Polizei, Ambulanzwagen und UNO-Jeeps blockieren die Strasse hinauf zur Geburtskirche. Als wir die Geburtskirche betreten, steigen Feuerwerke in den dunklen Himmel über Bethlehem und ein merkwürdiger Geruch von in Öl gebratenem fremdländischem Essen hängt in der Luft. Arabische Köstlichkeiten verströmen exotische Düfte. Dann stehen wir an jener Stelle, wo das Christuskind geboren wurde.
Ein Ereignis für die Geschichtsbücher. Wir warten in der Geburtskirche auf ihn, auf Palästinenserführer Arafat. Kommt er als Rächer oder als Friedensstifter? Kurz vor Mitternacht drängt die Menschentraube plötzlich zur Seite. Er kommt. Ein Wagenkonvoi rast den Hügel herauf zur Geburtskirche. Wir blicken in Gewehrläufe und in aufgeregt funkelnde Soldatenaugen. In einem der Wagen entdecken wir Arafat. Sein gepanzertes Auto ist umgeben von mitlaufenden Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag, sie schaffen Platz für Arafats Konvoi. Für Sekunden bin ich Auge in Auge mit dem PLO-Chef Yassir Arafat. Jetzt gibt es kein Halten mehr, denn in Wahrheit bin ich ja nicht als Tourist unterwegs, sondern auch als akkreditierter Reporter für einige Medien. Ich dränge mich durch die Menschenmassen. Ein Raunen geht durch die Menge in der Geburtskirche. Eine Sternstunde der Weltgeschichte. Arafat erstmals in der Geburtskirche von Bethlehem. Bethlehem, vor ein paar Tagen noch jüdisch, ist jetzt endgültig palästinensisch. Judentum trifft auf Palästinensertum.
Israeli und Palästinenser. Am ersten Weihnachtstag fahren wir weiter nach Jerusalem. Auf dem Platz vor dem höchsten Heiligtum der Juden, der Klagemauer, debattieren orthodoxe Juden über das historische Ereignis des Weihnachtsabends. Nur wenige Schritte davon entfernt, vor dem höchsten Heiligtum der Araber, dem Felsendom, das gleiche Bild mit palästinensischen Arabern. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen David Ben Gurion, dem Gründer Israels, und Arafat, dem Palästinenserführer? Wie David Ben Gurion nennen sie auch Arafat „den Alten“. Wer will, sieht eine Parallele zu dem alten Juden mit Löwenkopf. Im Abstand von vierzig Jahren verfolgen beide das gleiche Ziel: ein Volk retten, einen Staat gründen.
Juden, Moslems, Armenier, Christen. Das „ewige“, das historische Jerusalem ist nur einen Quadratkilometer gross und mit einer mächtigen Mauer umgeben. Vier Weltreligionen mit ihren höchsten Heiligtümern sind hier vereint, manchmal friedlich, häufig aber stehen sie sich feindlich gegenüber. Im Laufe der Geschichte haben sich innerhalb der Altstadt vier Stadtviertel („quarters“) herausgebildet, die nach der Religionszugehörigkeit ihrer Bewohner und ihrer religiösen Zentren benannt werden. Das Muslimische Viertel umfasst den Tempelberg mit den beiden grossen Moscheen und der Basarstrasse. Im Jüdischen Viertel im Westen der Klagemauer, das über alten Ausgrabungen neu erbaut wurde, erhalten heute nur Juden Wohnrecht. Im Christenviertel befinden sich die Grabeskirche sowie mehrere Dutzend Klöster und Kirchen. Das Armenierviertel mit der Jakobuskirche ist das ruhigste innerhalb der Altstadt.
„American Christmas“ im Heiligen Land. Jerusalem und das Heilige Land – das ist ein Schmelztiegel der Religionen und der Völker. Wir haben das Heilige Land mit Bethlehem mit den Augen unserer Kindheit gesucht, und wir haben „American Christmas“ gefunden. Bethlehem und die Weihnachtsgeschichte sind im „Good Shepherds Store“ präsent mit einer Flut von Andenken und Mitbringseln für die Lieben zu Hause. Verkaufshits sind Miniaturkrippen mit Kordel zum Umhängen und künstliche Miniaturbäumchen mit Kerzchen. Billige Andenken für jene, die weihnachtlich gestimmt ihren Hamburger mit Cola sitzend im Auto vertilgen. Ein Anflug von entgangener Festfreude und etwas Weihnachtstraurigkeit machen sich breit. Wir entfliehen.
„Schau, da unten ist Weihnachten!“ Am anderen Morgen geht’s zeitig in die judäischen Berge, dann Richtung Totes Meer. Plötzlich das Unerwartete. Da sind sie. Die Hirten auf dem Felde. Wie in biblischen Zeiten. In ihren Zelten und mit ihren Herden. „Schau, da unten ist Weihnachten“, ruft meine Frau mit verklärtem Blick. Wir sind bei den Nomanden vom Stamm der Jahalin. Und es gibt Fladenbrot und Tee. Es sind unsere Weihnachtsgeschenke. Und plötzlich ist es Weihnacht. Wir feiern Weihnacht mit den Hirten auf dem Felde. Sie freuen sich über unseren Besuch. Sie teilen mit uns Speis und Trank. Und vor ihren Zelten streiten sich die Völker und Religionen.
Text und Fotos: Kurt Schnidrig.