Mit seinen Berichten, Reportagen und Sachbüchern bringt Jean Ziegler skandalöse Zustände einem breiten Publikum nahe. Mit seinen Büchern gibt er den Armen und Verstossenen dieser Welt ein Sprachrohr. Jean Ziegler lehrte Soziologie an der Uni Genf und an der Sorbonne in Paris. Bis 1999 war er Nationalrat im Eidgenössischen Parlament und bis 2008 Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrates. In dieser Funktion hat er soeben eine gnadenlose Abrechnung mit der Flüchtlingspolitik der EU in Buchform veröffentlicht.
Ein persönlicher Erlebnisbericht. Im Mai 2019 reist Jean Ziegler in das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Er tut dies in seiner Funktion als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. Was er sieht, schockiert ihn zutiefst. Was er auf Lesbos vorfindet, ist schlimmer als alles, was ihm als Menschenrechts-Aktivist bisher untergekommen ist. Eigentlich ist das Flüchtlingslager Moria lediglich für 3.000 Bewohner*innen gebaut worden. Doch mittlerweile leben dort mehr als 20’000 Menschen auf engstem Raum. Mehr als die Hälfte davon sind Kinder und unbegleitete Minderjährige ohne jeglichen Schutz.
Himmeltraurige Zustände. Viele der Menschen im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos sind von einer langen und beschwerlichen Flucht traumatisiert. Nun leben sie hier in notdürftigen Hütten, die jeglicher sanitären Versorgung entbehren. Die Menschen waten knietief im Dreck und es gibt kaum etwas zu essen. Es herrscht grausame Kälte. Die Menschen sitzen um Feuer herum um sich aufzuwärmen. Immer neue Schlauchboote kommen übers Meer und legen am Strand im Norden der Insel Lesbos an. Doch die Überfahrt wird immer waghalsiger und gefährlicher. Die Menschen auf der Flucht müssen den Grenzschützern ausweichen, die sie zurück in die Türkei bringen wollen. Gemeinsam kontrollieren die griechischen und türkischen Küstenschützer die EU-Aussengrenze. Diese Abschottungspolitik sei ein ausgesprochen lohnendes Geschäft, schreibt Jean Ziegler in seinem Buch. Und weiter: „Für die Rüstungsindustriellen (…) ist der Kampf gegen Flüchtlinge (…) viel profitabler als jeder gegenwärtig wütende Krieg in Syrien, Darfur oder Jemen“. Für Jean Ziegler steht fest: Hier werden permanent Menschenrechte verletzt. Und das geschieht „angeordnet von der Europäischen Union, die die Flüchtlinge wie Feinde behandelt und sie daran hindern will auf das Europäische Festland zu kommen.“ Damit würden „die Betonköpfe in Brüssel – die Europäische Union – das universelle Menschenrecht auf Asyl verweigern und zerstören.“
Verantwortungslos und skandalös. Bis über ein Asylgesuch entschieden wird, dauert es oftmals viele Monate, manchmal sogar Jahre. Die Menschen verzweifeln ob des endlosen Wartens, der Armut und der grassierenden Krankheiten. Der happige Vorwurf von Jean Ziegler: Die EU gebe die Regeln vor, sie nehme die menschliche Katastrophe auf Lesbos bewusst in Kauf, denn diese sei Teil ihrer Abschreckungspolitik. Es liesse sich einwenden, die Gesamtverantwortung für die Steuerung der Migration in Griechenland liege ja bei der griechischen Verwaltung. Diesen Einwand lässt Jean Ziegler jedoch nicht gelten. Er schreibt: „Die Totalverantwortung – nicht nur finanziell, sondern auch juristisch und politisch – der EU ist bewiesen.“ Es gehöre zur „Schande Europas“, dass sich die „Bürokraten in Brüssel“ mit verlogenen Aussagen aus der Verantwortung stehlen möchten.
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Zerstört das, was in diesen Tagen und Wochen auf Lesbos geschieht, das moralische Fundament Europas? Jean Ziegler ist der festen Überzeugung, das dem so sei. Er fordert eine Rückkehr zu den Grundwerten unserer Kultur. In seinem Buch kommt er zum Schluss: „All das, was ich als Sonderberichterstatter in Slums auf der ganzen Welt gesehen habe, ist nichts gegen das, was ich auf Moria erlebt habe.“ Gibt es Hoffnung, dass sich das Flüchtlingsproblem bald einmal lösen lässt? Immerhin arbeitet die EU derzeit an einem neuen Migrationspakt. Noch in diesem Frühjahr soll er vorgestellt werden. Für Jean Ziegler verbirgt sich hinter dieser Scheinlösung aber nur eine weitere Schikane der EU. Die Europäische Union wolle mit dem neu angedachten Migrationspakt lediglich den rassistischen Bewegungen innerhalb der EU entgegenkommen, indem sie die Zahl der Flüchtlinge verkleinere, moniert Ziegler.
Jean Zieglers Buch ist ein dringlicher Appell an die zuständigen Politiker in Brüssel, aber auch ein Warnruf an uns alle, der menschenverachtenden Praxis der „Push-Backs“ (der brutalen Zurückweisungen mit Waffengewalt) und der grausamen Realität der Hotspots (wie Moira auf Lesbos) ein Ende zu bereiten. Denn Push-Backs und Hotspots seien eine Schande für Europa.
Text und Foto: Kurt Schnidrig