Die Geschichte von einem geheimnisvollen und merkwürdigen Engländer, der vor fast hundert Jahren plötzlich in Reckingen aufgetaucht war, bewegt und fasziniert bis heute die Menschen im Goms. Der Engländer trug Frauenkleider und lebte in den Sommermonaten in einer Höhle im wildromantischen Blinnental bei Reckingen. Die Recherchen-Arbeit zum nun vorliegenden Buch hat die Einheimische Ilse Carlen geleistet. Irgendwann während des Zweiten Weltkriegs ist „der Engländer“, wie ihn die Einheimischen schlicht nannten, dann plötzlich verschwunden.
Der Donovan-Mythos. Für die Leute in Reckingen blieb „der Engländer“ bis heute als ein geheimnisvoller und liebenswerter Gast in Erinnerung. Um die Gestalt des Richard Donovan – so soll der Sonderling gemäss Ilse Carlens Recherchen geheissen haben – rankten sich schon bald Gerüchte und Geschichten. Was für ein Mensch aber war Donovan wirklich? In lebhaften Erzählungen hat die Familie und die Verwandtschaft von Ilse Carlen den Aufenthalt Donovans im Blinnental in Erinnerung behalten und wohl auch ausgeschmückt. Als dann im Jahr 2010 ein englischer Reisebuch-Autor das Oberwallis besucht hatte um Näheres über den Dichter Rilke zu erfahren, half dieser mit zusammenzutragen, was sich noch in Erfahrung bringen liess über den merkwürdigen Engländer. Als ein Glücksfall bei all der ungewissen Quellenlage stellte sich ein Koffer heraus, den Donovan im Reckinger Postbüro zurückgelassen hatte. Nachdem Ilse Carlen in achtjähriger Arbeit versucht hatte, die Erkenntnisse und Fakten wie Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, machte sie sich auf die Suche nach einem Autor. Von ihm erhoffte sie sich ein literarisches Werk, das auf den gesammelten Daten basiert. Mit Oskar Freysinger fand sie einen Literaten, der über das nötige Vorstellungs- und Einfühlungsvermögen verfügt, um aus dem „Engländer“ die Romanfigur Donovan entstehen zu lassen.
Oskar Freysingers „Nachtwehen“. Auf der Suche nach einer geeigneten literarischen Verarbeitung liess ein einzelner Brief aus dem Koffer, den „der Engländer“ im Reckinger Postbüro zurückgelassen hatte, im Autor Freysinger die Idee aufkeimen, Donovans Story in Form eines Briefromans zu rekonstruieren. Im besagten Koffer befand sich zudem eines von Donovans Tagebüchern. Zusammen mit Ilse Carlens Daten und Materialien war damit eine zwar dünne, aber ausreichende Quellenlage gegeben, die es Oskar Freysinger ermöglichte, ein literarisches Werk mit psychologischem Tiefgang zu kreieren. Donovan – so heisst der Protagonist im Roman – tritt dem Leser mit einem höchst interessanten psychologischen Hintergrund entgegen. Dazu beigetragen hat mit Sicherheit das Identifikationsvermögen des Autors mit seiner Figur. Spannende Fragestellungen haben dem Autor ein weites Feld eröffnet, um persönliche Überzeugungen und eigene Lebenserfahrung in die Figur Donovan einfliessen zu lassen. Im Briefroman entschwindet der Autor auch immer wieder in eigene Phantasiewelten.
„Ich identifizierte mich nach und nach sosehr mit Donovan, dass ich mehrere Tage in der Folge davon träumte, ich sei er geworden. Am Morgen stürzte ich dann jeweils zum Schreibtisch und notierte, was die nächtlichen Phantasien an die Gestade meines Bewusstseins geschwemmt hatten.“
Vorwort von Oskar Freysinger
Freysingers Briefroman gibt teils sehr eigene Antworten auf relevante Fragestellungen wie beispielsweise: Warum hat der gebildete und wohlhabende Engländer das britische Reich verlassen? Weshalb hat sich Donovan im Blinnental bei Reckingen niedergelassen, um dort in einem Erdloch das Leben eines Sonderlings zu führen? Weshalb trug Donovan Frauenkleider, obschon (oder weil?) alle seine Beziehungen zu Frauen gescheitert sind? Weshalb verschwand Donovan ebenso plötzlich wieder wie er aufgetaucht war? Als einigermassen gesichert gilt einzig der von Ilse Carlen verfasste dokumentarische Teil in Freysingers Buch. Dass der Autor Freysinger der grossen Forschungsarbeit und dem literarischen Gespür von Ilse Carlen den gebührenden Raum in seinem Buch zugesteht, das spricht für das Verständnis und für die Kompetenz des Schriftstellers Freysinger aus literarischer, historischer, aber auch aus menschlicher Sicht.
Meine Literaturkritik zu „Nachtwehen“ lesen Sie in Kürze hier auf Ihrem rro Blog Literatur.
Text, Foto und Radio-Beitrag: Kurt Schnidrig