Im Jahr 1929 tauchte unerwartet ein Engländer im Dorf Reckingen auf. Während der folgenden zehn Jahre hauste er während den Sommermonaten in einer Höhlenwohnung im wildromantischen Blinnental. Mit Frauenkleidern angetan und mit queren Gedanken im Kopf bezauberte er die Dorfbevölkerung, mehr noch, er gewann die Herzen der bodenständigen Bevölkerung. Unbemerkt verschwand „der Engländer“ nach zehnjährigem Aufenthalt wieder. „Aber seine Melodie klang in den Herzen vieler Reckinger liebevoll weiter“, wie die Einheimische Ilse Carlen im Vorwort zum Buch „Nachtwehen“ von Oskar Freysinger festhält. Das Buch ist soeben in Form eines Briefromans erschienen. Freysingers Briefroman beruht auf den Aufzeichnungen und Materialien, die Ilse Carlen nach ihrer mehr als achtjährigen Quellensuche für eine Publikation über den Engländer und sein Umfeld zusammengetragen hat. Allerdings konnte Ilse Carlen „nur noch einzelne Mosaiksteine seiner Biographie zusammentragen – Steinchen, die nie ein vollständiges Bild ergaben.“ Ein Koffer, den „der Engländer“ kurz vor seiner Ausweisung aus der Schweiz im Jahr 1939 im Reckinger Postbüro zurückgelassen hatte, hebt Percy Azleby Vicenti de Pereda Donovan, im Roman lediglich Donovan genannt, zusätzlich noch ins Geheimnisvolle und Mystische. Auf Ilse Carlens Wunsch hin sollte Oskar Freysinger ihre gesammelten Daten „in ein literarisch wertvolles Werk umwandeln.“
Identifikation mit Donovan. Dem Schriftsteller Freysinger darf man zugute halten, dass er es sich mit der Beantwortung der hoch spannenden Fragestellungen nicht leicht gemacht hat. Warum hatte Donovan das britische Reich verlassen, obschon er wohl situiert an der Universität Oxford studierte? Weshalb entschied er sich vorerst für ein Bohème-Leben in den USA? Wie kommt ein hochintelligenter Mensch wie er dazu, später in einem Erdloch im Goms das Leben eines Eremiten zu führen? Was bewog ihn, seine feminine Seite auszuleben und sich in Frauenkleidern zu präsentieren? Hat er seinen Koffer mit rätselhaftem Inhalt absichtlich im Postbüro von Reckingen hinterlassen? Freysinger stürzte sich nach eigenen Worten in ein „schriftstellerisches Abenteuer“. Er wählte eine persönliche Identifikation mit Donovan als Mittel zum Zweck, denn die von Ilse Carlen akribisch gesammelten Fakten würden von der psychologischen Tiefendimension Donovans nichts preisgeben, begründet Freysinger sein Vorgehen.
„Ich war Donovan“. Für ihn sei das Schreiben am Briefroman „Nachtwehen“ ein atemberaubendes schriftstellerisches Abenteuer gewesen, schreibt Oskar Freysinger. „Ich lachte, weinte, zweifelte, litt und hoffte mit Donovan – ich war Donovan – während ich schrieb.“ Ob diese Erzählhaltung aber auch den Lesererwartungen entspricht? Wie sehr darf sich ein Autor mit seinem Protagonisten identifizieren? Romantheoretiker wie Wolfgang Kayser oder Kurt Forstreuter haben bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts gefordert, dass der Erzähler eines Romans, sei es in einem Ich- oder Er-Roman, nicht mit dem Autor gleichzusetzen sei. Auch für Forstreuter ist der Ich-Erzähler nicht mehr eine Rollenmaske für den Autor, sondern eine selbständige fiktionale Figur. Die Ansicht, dass das Ich eines Ich-Erzählers weitgehend identisch werden darf mit dem Ich des Autors, hatte sich vor allem bei der Interpretation der grossen Bildungsromane in der Ich-Form, die eine solche Identifizierung nahelegten, wie z.B. Der grüne Heinrich und David Copperfield, herausgebildet. Identifiziert sich ein Autor mit einer seiner Figuren, kann dies nicht ohne Bedenken geschehen.
„Identifiziert sich ein Autor mit einer seiner Figuren, kann dies nicht ohne Bedenken geschehen.“
Romantheorie von Forstreuter / Kayser
Zahlreichen Schriftstellern hat dieses Vorgehen bereits Kopfzerbrechen bereitet. Jane Austen konzipierte zunächst in der Ich-Form eines Briefromans, was später zur auktorial-personalen Er-Erzählung „Sense and Sensibility“ wurde; Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“ ist der klassische Fall einer, wenn auch zögernd und gegen viele Bedenken vorgenommenen Transponierung von der Er- in die Ich-Form; Franz Kafka hat die ersten Kapitel des Romans „Das Schloss“, die ursprünglich in einer Ich-Fassung vorlagen, in eine personale Er-Form übertragen. Einwände gegen die formale Anspruchslosigkeit einer unreflektierten persönlichen Erzählweise erfolgen häufig deshalb, weil der allzu persönliche Bericht einer „fingierten Wirklichkeitsaussage“ gleichkommt. Wenn die Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit des Erzählers zur dargestellten Wirklichkeit, in der die Charaktere leben, nicht mehr klar definiert ist, kann dies einen Einfluss haben auf die Glaubwürdigkeit oder auf den „Gewissheitsgrad“ der Erzählform (vgl. etwa Günter Waldmanns „Ideologie der Erzählform“). Immer sind also auch die Leseerwartungen des Publikums entscheidend. Für „Nachtwehen“ von Oskar Freysinger stellt sich damit die Frage, ob die „körperlich-existenzielle Verankerung“ des Autors Freysinger in der Figur des Engländers Donovan die Erwartungshaltung der Leserinnen und Leser zu erfüllen vermag.
„Nachtwehen“ – ein Phantasiekonstrukt. Dem Briefroman von Oskar Freysinger darf durchaus zugute gehalten werden, dass die Identifikation des Autors mit dem Protagonisten Donovan einen direkten, persönlichen, emotionalen und auch poetischen Einblick ermöglicht in die Seelenlandschaft des Sonderlings Donovan. Dass damit der Briefroman allerdings nur eine „bedingte Glaubwürdigkeit“ für sich beanspruchen darf, indem die zweifellos spannenden Annäherungen, Exkurse und philosophischen Traktate des Autors womöglich das wahre Bild des Eremiten und Querulanten Donovan verfremden, muss wohl in Kauf genommen werden.
„Ich lachte, weinte, zweifelte, litt und hoffte mit Donovan – ich war Donovan – während ich schrieb.“
Oskar Freysinger
Das schriftstellerische Vorgehen des Autors lässt sich aber auch verteidigen. Drei Ich-Romane, deren Bedeutung zu einem erheblichen Teil darin begründet ist, dass ihre Themen erst durch die ungewöhnliche Verwendung der Ich-Form ihre eigentliche Definition erfahren haben, seien hier erwähnt: Günter Grass‘ „Die Blechtrommel“, Uwe Johnsons „Das Dritte Buch über Achim“ und Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“. Diese drei Romane können als Beleg dafür angefügt werden, dass die Ich-Erzählung in der Literatur der Gegenwart eine Sonderstellung einnimmt. Trotzdem aber gilt die Identifikation des Autors mit einer seiner Figuren als ein Synonym für komplex, schwierig und verfremdend. In „Nachtwehen“ erscheint mir insbesondere das gelegentliche Überborden, Überzeichnen und Überhöhen des Protagonisten Donovan nicht ganz unproblematisch zu sein.
Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit. Über die stärksten Passagen verfügt der Briefroman „Nachtwehen“ da, wo der literaturhistorische Hintergrund gewährleistet ist. Die viktorianische Erziehung im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts und die hohen Erwartungen eines familiären Umfelds werden glaubhaft angeführt, um die Suche Donovans nach einem neuen Selbstverständnis zu begründen. „Ich will den Harnisch des Formalismus und der Prüderie abstreifen“, lässt der Autor seinen Protagonisten schreiben (S. 22). Die immer wiederkehrenden Vergleiche mit der Autorenschaft aus der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte hingegen wirken reichlich bemüht. Wurde Donovan womöglich zum gehorsamen Untertanen seiner Majestät gemassregelt, hat sich die Situation Rilkes damals in einer Kadettenschule bestimmt kaum vergleichbar präsentiert, wie der Briefeschreiber suggeriert. Für die Verehrung Donovans für die Dichter und Denker Deutschlands, „die Nachfahren Hölderlins, Goethes und Beethovens“, fehlt nun wirklich das Begründende. Warum sollte einer, der Selbstverwirklichung sucht mit den Worten „Der Wald sei mein Hörsaal, der Pilzboden meine Mensa und das Moos meine Ruhestatt“, zum Verehrer Deutschlands mit Heine, Büchner, Mendelssohn, Schumann, Kant und Nietzsche werden? In den Kiefernwäldern von Maine und später in der Höhlenbehausung im Blinnental ob Reckingen müsste Donovans angestrebte Selbstfindung wohl auch noch andersgeartet ausgefallen sein.
Das weibliche Wesen. „Tief in mir ist etwas, das mich lähmt“, lässt der Autor seine Figur Donovan im wohl grösstenteils fiktiven Briefwechsel mit einer Frau Martha Scudder klagen. Ein einziger Brief an Martha aus dem Jahr 1912 soll sich im Koffer befinden, den Donovan bei seiner überstürzten Abreise im Postbüro von Reckingen zurückgelassen hat. Sie im Briefroman zur Adressatin und damit zur Katalysatorin von Donovans Seelenlandschaften empor zu stilisieren, dies ist zweifellos ein geglückter Kunstgriff des Autors. Der Briefwechsel fördert viel Nachvollziehbares, aber auch manch Überzeichnetes und Überbordendes zutage. In biblisch motivierten Passagen findet „der verlorene Sohn“ nicht mehr nach Hause und zerfliesst in Selbstmitleid. Statt nach Entwicklungsmöglichkeiten zu suchen, hortet Donovan „Erinnerungen wie ein Eichhörnchen seine Nüsse“ (S. 70) und schiebt alle Schuld seinem Umfeld zu. Für ihn ist das weibliche Wesen „nicht erschliessbar“ und auch „nicht durch Gedanken fassbar“ (S. 61). Schuld dafür tragen jeweils die angehimmelten Geliebten, welche am Formalismus und an der Abstraktheit Donovans scheitern. „Vielleicht rührt es einfach nur daher, dass meine Geliebten nicht verkörpern, wonach ich mich immer sehnte“ (S. 79). Doch nicht genug damit. Donovan mutiert zu einem Mannweib, im Blinnental hoch über Reckingen wird aus Donovan irgendwann mal Franca Kraig. Donovans Zwitterwesen soll die Beziehung zur Mutter grundgelegt haben. „Ich liebte sie wie eine unerreichbare Geliebte“, lässt der Autor seine Figur schreiben, und dass er sich in Form von Frauenkleidern die Haut seiner Mutter übergezogen habe (S. 201).
Ein „sympathischer Sonderling“. Zum Aufenthalt Donovans in seiner Höhlenwohnung im Blinnental vermag der Briefroman wenig Überraschendes zu enthüllen. „Seine Melodie klang in den Herzen vieler Reckinger liebevoll weiter“, schreibt Ilse Carlen. Der Autor schmückt diesen Gedanken im Briefroman genüsslich aus, etwa dann, wenn der Eremit Donovan, der ja eigentlich in der Stille des Blinnentals „bis zu seinem Wesenskern“ hätte vorstossen wollen, Tee für Wanderer und Hirten zubereitet und sogar ein „Restaurant Finsterling“ eröffnet, was natürlich der angestrebten „Schatzsuche in der eigenen Seelenlandschaft“ kaum förderlich ist. So kommt es, dass Donovan das Erdloch „Finsterling“ verlässt (verlassen muss?), was mit der niederschmetternden Erkenntnis endet: „Meine Selbstsuche hat mich keineswegs zu meinem Wesenskern geführt, sondern über die Elektronenbahn in den leeren Raum hinausgeschleudert.“ (S. 193). Spätestens an dieser Stelle nährt sich der Briefroman wieder aus der dünnen Faktenlage. Bösartige Gerüchte streuten wohl Feindseligkeiten. Die Gommer Gemeinden fürchteten wohl, für Donovan finanziell aufkommen zu müssen. Der Landesverweis im Jahr 1939 liess zwar die Donovan-Story in unserem Land enden, sie fand aber eine Fortsetzung in London, inmitten der kriegerischen Ereignisse während der Luftschlacht um England, was wohl Stoff böte für einen weiteren Roman.
Der Kaspar-Hauser-Effekt. In der deutschen Literaturgeschichte ist die „absolute Vereinsamung“ des modernen Massenmenschen, der asozial und kulturverneinend wird, bereits aufgearbeitet als „Kaspar-Hauser-Effekt“. Ähnlich wie Donovan war auch Kaspar Hauser ein rätselhafter Findling, der 1828 in Nürnberg im Brennpunkt von allerlei Gerüchten stand. Einige Parallelen zu Donovan sind offensichtlich, auch wenn sich die beiden Persönlichkeiten grundsätzlich unterscheiden. Donovan und Kaspar Hauser haben einiges gemeinsam. Die adelige Abstammung, die strenge Erziehung und die Selbstsuche zum Beispiel. Kaspar soll „wie ein halbwilder Mensch in Wäldern erzogen“ worden sein. Er soll in einem dunklen Raum (Höhle?) gehaust haben. Wie Donovan soll auch er ein belesener Gelehrter gewesen sein mit starkem Hang zum Spekulativen. Als man ihn fand, soll er die Menschen wie ein Rattenfänger in seinen Bahn gezogen und ihre Zuneigung geweckt haben. Als gewinnendes Wesen verkehrte Kaspar Hauser später in besten Gesellschaftskreisen. Eine engere Beziehung zu Frauen gelang aber beiden, Kaspar wie auch Donovan, nie. Das öffentliche Interesse an Kaspar stieg ins Unermessliche. Der neugierige Andrang von Besuchern musste eingeschränkt werden. Auch Donovan soll mit seiner Lebensmelodie die Dorfbewohner angelockt haben wie ein Rattenfänger. Kaspar Hauser wurde zu einer öffentlichen Attraktion, Donovan zum Objekt der Begierde für die Boulevardpresse. Als bei Kaspar das Interesse an seiner Person aber irgendwann nachliess, soll er sich selber Schnittwunden beigebracht haben. Damit wollte er wohl die Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken. 1833 starb er an einer Selbstverletzung, die ihm das öffentliche Interesse sichern sollte. Kaspar gilt bis heute als Rätsel seiner Zeit, unbekannt bleibt seine Herkunft, geheimnisvoll sein Tod. Auch Donovan geriet im Goms zur öffentlichen Attraktion. Ist auch sein Koffer, den er im Postbüro von Reckingen zurückgelassen hatte, als eine Chiffre an die Nachwelt zu verstehen, mit der er das öffentliche Interesse an seiner Person sichern wollte? Im Briefroman „Nachtwehen“ von Oskar Freysinger ist über den mysteriösen Koffer Ähnliches zu lesen.
„Sollte dem wirklich so sein, dann hinterlasse ich durch ihn wenigstens eine Flaschenpost an die Zukunft. Ein Enigma. Die Spur eines verschlüsselten Lebens.“
Oskar Freysinger: „Nachtwehen“, Seite 216.
Die Legendenbildung um Kaspar Hauser treibt bis heute in der Literatur die wundersamsten Blüten. Von verschiedensten Schriftstellern wurde die Fabel in mannigfacher Form umgesetzt. Das Phänomen Kaspar Hauser hat darüber hinaus auch Wissenschaftler und Kriminalisten, Filmemacher und Künstler fasziniert. Gut vorstellbar ist, dass der Donovan-Story ebenfalls noch verschiedenste kulturelle Adaptionen und Bearbeitungen des Stoffes bevorstehen.
Text, Foto und Podcast: Kurt Schnidrig