An Allerheiligen beginnt der Toten- oder Allerseelenmonat. Passend dazu – aber wohl eher zufällig – hat der Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband den Roman „das alles hier, jetzt.“ auf die Shortlist für den Schweizer Buchpreis gesetzt. Der Roman über eine Verstorbene und über die Erinnerung an sie bewegt die Gemüter. Zwar ist die Literaturgeschichte reich an Büchern über Krankheit, über zu frühes Sterben und über den Umgang mit Trauer. Anna Sterns Roman überrascht jedoch nicht unbedingt inhaltlich, sondern vor allem formal.
Ananke und Ichor sind die beiden Protagonisten im Roman der jungen Schriftstellerin aus der Ostschweiz. Sie bleiben seltsam konturlos und schemenhaft. Ist nun Ichor ein Mann oder eine Frau? Als Leser erhält man kaum eine Orientierungshilfe. Doch darum geht es nicht. Der Roman möchte von einem Tod erzählen. Und er möchte auch davon erzählen, was vor diesem Tod war. Anna Stern erzählt in zwei Teilen. „Part I, Februar bis Juli“, jeweils auf der linken Seite in schwarzer Schrift, berichtet von der Zeit nach Anankes Tod. Auf der rechten Seite, in grauer und blasser Schrift, schwelgt der Protagonist Ichor in Erinnerungen an die Zeit davor, an die Kindheit und Jugendzeit, an die Erlebnisse mit Ananke als junge Erwachsene in der kleinen Stadt am See.
„dass so viele herzen schlagen, jede sekunde zu schlagen beginnen, zu schlagen aufhören, und dass diese herzschläge, schlügen sie alle im takt, brücken zum einstürzen brächten, berge zerfallen liessen, langsam, ihretwegen ozeane über die ufer träten.“
Anna Stern im Roman „das alles hier, jetzt.“
Anna Sterns radikaler Schreibstil ist gewöhnungsbedürftig. Alles ist bei ihr in konsequenter Kleinschreibung wiedergegeben, vieles wirkt irgendwie nicht zu Ende gedacht, einiges bleibt offen, manches wirkt eilig hingeworfen, unbeendet, unruhig, flüchtig, orientierungslos. Des Lesers Vorstellungskraft ist gefordert. Wenn es aber gelingt, die eigene Imagination, den so ganz eigenen Film im Kopf, abzuspulen, dann tun sich Bilderwelten auf, fantastische Husarenritte in die eigene Erlebnis- und Gefühlwelt werden möglich, dann entstehen surreale Bilder und Erinnerungen im Kopf des Lesers, kraftstrotzend, plastisch und überwältigend. Genial. Text und Form widerspiegeln die Geschichte von Ichor und Ananke.
Was aber ist eigentlich geschehen?, fragt sich der aufgewühlte und irritierte Leser nach zwei Dritteln des Buchs. Ananke, die Verstorbene, feiert eine Auferstehung in der Imagination der Leser*innen. Den Mitläufer*innen in einem Totentanz ähnlich, nehmen wir Anteil an Anankes gelebtem Leben, wir gehen mit ihr zelten, wir streiten mit ihrer Freundin, wir teilen mit ihr Geborgenheit. Wenn da nur nicht Anankes Tod wäre. Er hüllt uns als Leser*innen in Todesstarre, gelähmt und hilflos hangeln wir uns durch das letzte Viertel des Romans. Wir hangeln uns von kurzen Beobachtungen über die Beschreibungen von Gegenständen bis zu Szenen, welche im dunklen Tunnel der Trauer ein Fenster aufstossen.
„du bist müde, müde und schwer mit einem eigenartigen glück, mit dem gefühl, gleichzeitig in deinem körper zu sein und ausserhalb, eins zu sein, ganz nah bei dir zu sein: traumgleich.“
Anna Stern im Roman „das alles hier, jetzt.“
Einen Ausbruch aus dem Gefängnis der Trauer zu finden, das ist ob dieses Settings schwierig und delikat. Autorin Anna Stern hält sich jedoch nicht an gängige Erzählmuster. Sie schafft ohne rührselige Szenen den Ausstieg aus der Trauerarbeit. Zum Schluss beschliessen Anankes Freunde, gemeinsam das Tal der Tränen zu verlassen. Zum überraschenden Showdown fahren sie auf den Friedhof mit einer radikalen Idee, wie sie die Trauer aus ihren Herzen verbannen könnten…
Einen mutigen, konsequenten und experimentellen Roman legt uns Anna Stern vor. Ihre Leser*innen verwickelt sie in ein wahres Sprachabenteuer. Das mag nicht jedermanns Sache sein. Anna Sterns Erzähl-Feuerwerk fordert uns viel ab. Es kann aber lohnend sein, sich auf Anna Sterns Roman-Experiment einzulassen. Ob das die Juror*innen des Schweizer Buchpreises am 8. November auch so sehen werden?
Die Sendung Literaturwelle zum Schweizer Buchpreis 2020 wird an Allerheiligen ausgestrahlt. Den Podcast dazu können Sie ab dem 1. November an dieser Stelle hören.
Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig