Auf der Höhenwanderung vom Simplonpass bis nach Simplon Dorf kann man zurzeit ein goldenes Wunder erleben: Die ältesten Lärchen Europas verfärben sich gelb-orange-golden. Im Hittuwald am Chastelberg steigen wir über Geröllhalden und durch zauberhafte Farbenpracht steil hinunter bis zur Suone Chrummubacheri, die auch heute noch das Wasser auf die Weiden im Tal leitet. Zwischen 850 und 1100 Jahre alt sind die herbstbunten Lärchen, die unseren Weg säumen. Je nach Höhenlage sind sie noch von einem blassen Sommergrün, einige bereits in schreiendes Grellgelb getaucht und die mutigsten prangen und brennen bereits wie Feuer in Orange. Als sie noch Jungspunde waren, herrschte noch tiefstes Mittelalter bei uns.
Die Simplonlärchen reckten sich bereits in die Höhe, als der Grosse Stockalper mit seinen Saumkarawanen über die steilen Wege holperte. Und sie versprühten ihre Farbenpracht, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Feldherr Napoleon eine breite Strasse für seine Kanonen durch die lichten Wälder schlagen liess. Trotz all des Ungemachs der Historie: Die Lärchenwälder am Simplon zünden Ende Oktober ihr bengalisches Feuerwerk als stünden sie selbst in Flammen. Warum sich die ältesten Lärchenwälder Europas ausgerechnet im Hittuwald oberhalb von Simplon Dorf ausbreiten? Darüber streiten sich die Wissenschafter seit Jahrhunderten. Einleuchtend erscheint die These, dass klimatische Faktoren dafür verantwortlich sind. Die extrem trockene Luft in den Südtälern des Wallis soll den Lärchen besonders gut bekommen.
Die Melodie der Lärche beschreibt ein Musicus als ein feines Rauschen, das mit dem Wind anschwillt und abebbt. In der Sprache der Tonkünstler würde man von feinen Variationen und Modulationen sprechen. Die Lärche sorgt allerdings nicht bloss für einen Ohrenschmaus, sie liefert auch Handfestes, will heissen, sie produziert die Leertschina. Dabei handelt es sich um flüssiges Harz. Als desinfizierender Wundbalsam ersetzt die Leertschina so manche teure Medizin. Die Leertschina findet als sogenannte „Zugsalbe“ auch dann Anwendung, wenn sich Eiter angesammelt hat oder wenn man einen Holzsplitter (än Schina) „gefasst“ hat.
Im November geht es mit der Farbenpracht der Lärche allmählich zu Ende. Darüber hat die Walserdichterin Anna-Maria Bacher wundervolle poetische Zeilen verfasst. Ich habe sie im Alpmuseum auf der Riederalp getroffen (Bild). Ihr Gedicht trägt den Titel „Die Lärche im Winter“.
Plötzlich / ist die Lärche alt geworden: / Die Sorgen des Winters machten sie kahl, / sie ist ohne Nadeln. // Unbeweglich in ihrer runzligen Rinde / betrachtet sie / kurzsichtig / den gefährlichen Berg, / gefangen im Nebel. // Kalt und steif / wie der Tod / wartet sie gläubig / auf die neue Kraft / des Frühlings.
Anna-Maria Bacher
Im Walserdeutsch des Pomatt liest sich „Der Lärch im Wênter“ wunderbar klangvoll:
Ineinmal / der Lärch êscht kaltet: / t Faschtêdänä fam Wênter / henä süfer bluttä klaa, / är êscht oni Chrês. // Schtêllä / in di ferumpft Rênna / lögter / mêt churtziksêcht, / der kfärlich Bärg / kfangnä in der Bisu. // Chaltä un schtabendä / wê der Toot / wartäder glöibendä / der niw Chraft / fam Langsê.
Anna-Maria Bacher
Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig