Die französische Neurophysiologin Anne Beaumanoir, geboren 1923 in der Bretagne, rettete im Zweiten Weltkrieg zwei jüdische Jugendliche vor dem Zugriff der Geheimen Staatspolizei Gestapo. Dafür erhielt sie von Yad Vashem später den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“. Später engagierte sie sich auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Dafür wurde sie 1959 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Noch heute gilt Beaumanoir vor allem in freiheitsliebenden Schulen als lebendiges Beispiel für die Wichtigkeit des Ungehorsams. Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber verfasste über Beaumanoir ein Heldinnenepos, das nun mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet wurde. (Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Matthes & Seitz, Berlin, 208 Seiten). Die Schriftstellerin Anne Weber stammt aus Offenburg bei Frankfurt, lebt aber seit frühester Jugend in Paris. Sie arbeitete zuerst als Übersetzerin. Ihre Bücher verfasst sie mal auf Deutsch und mal auf Französisch. Weber übersetzt sie dann selbst in die jeweils andere Sprache. Die Begründung der Jury liest sich überschwänglich.
„Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen.“
Die Jury des Deutschen Buchpreises 2020
Wer aber war die „Heldin“ Anne Beaumanoir wirklich? Während des Zweiten Weltkriegs studierte sie Medizin in Paris. Heimlich wandte sich Beaumanoir dem Kommunismus zu. Da erreicht sie eines Tages eine Warnung. Freunde ihrer Eltern sind es, die sie über eine nächtliche Razzia im Arrondissement von Paris, durchgeführt von Hitlers Geheimpolizei Gestapo, informieren. Die Warnung enthält auch den Hinweis, dass eine Dame, Victoria, eine jüdische Familie in ihrem Haus verstecke. Anne Beaumanoir versucht die jüdische Familie zu überzeugen, noch vor dem Einbruch der Nacht das Versteck zu wechseln. Doch nur die beiden Kinder der jüdischen Familie, Daniel und Simone, befolgen den Rat. Anne Beaumanoir bringt die beiden Kinder in ein Versteck, in dem viele Mitglieder des Widerstands untergebracht sind. Die Gestapo spürt die Widerstandskämpfer in ihrem Versteck auf. Einer der Kämpfer flüchtet mit den beiden Kindern über die Dächer von Paris. Anne Beaumanoir nimmt Daniel und Simone später in ihre Obhut und bringt sie zu ihren Eltern in der Bretagne. Nach der Befreiung bleiben die geretteten Kinder ihr Leben lang mit Anne Beaumanoir verbunden.
Ein Lob des Ungehorsams. Nach dem Krieg nimmt Anne Beaumanoir ihr Medizinstudium in Marseille wieder auf. Nach Studienabschluss wird sie Professorin für Neurologie. Politisch fühlt sie sich nun aber in der Kommunistischen Partei nicht mehr gut aufgehoben. Sie verlässt die Partei 1955 und engagiert sich als Sozialarbeiterin in Algerien. Als Mitglied der Nationalen Befreiungsfront FLN wird sie verhaftet und 1959 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Als Inhaftierte kümmert sie sich um die Alphabetisierung der Insassinnen. Noch im Gefängnis wird sie schwanger und wird vorübergehend zur Entbindung freigelassen. Sie nutzt die Gelegenheit zur Flucht nach Tunesien.
In die Schweiz abgeschoben. Nach dem Ende des Algerienkrieges wird Anne Beaumanoir ein Mitglied des Kabinetts von Gesundheitsminister Ben Bella. Nach dem Regierungssturz wird sie in die Schweiz abgeschoben. In Genf übernimmt sie im Universitätskrankenhaus die Leitung der Abteilung für Neurophysiologie. Im Mai 2020, dem Tag des nationalen Widerstands, erscheint mit ihrer Beteiligung ein Buch über die glücklichen Tage des gemeinsamen Widerstands gegen die Diktatur.
„Annette, ein Heldinnenepos“ – das Buch von Anne Weber, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2020, erzählt somit von einer wahren Heldin. Schriftstellerin Anne Weber schildert die Szenen aus dem Leben der Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir mit grosser Sprachkraft.
„Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt.“
Die Jury des Deutschen Buchpreises 2020
Was aber ist mit der „alten Form des Epos“ gemeint, welche die Schriftstellerin Anne Weber wählt, um die Geschichte der Widerstandskämpferin Beaumanoir zu erzählen? Der Begriff stammt von den antiken Poetiken her, die Homers Ilias und Odyssee zum Vorbild nehmen, vielleicht auch Hesiods Theogonie. Das Epos gehört damit zur Dichtung. Weil das Epos früher vor allem eine mündliche Verbreitung fand, hat es sich vorwiegend in Versform erhalten. Die Versform dient nämlich zusätzlich als Gedankenstütze und auch als Deklamationshilfe beim mündlichen Vortrag. Die „alte Form des Epos“ pflegt einen erhabenen Stil, der häufig durch das Versmass des Hexameters zustande kommt. An diese „alte Form des Epos“ also lehnt die Schriftstellerin Anne Weber ihr Buch „Annette, ein Heldinnenepos“ an.
Epos oder Roman? Es ist etwas verwirrlich, wenn die Jury des Deutschen Buchpreises Anne Webers „Heldinnenepos“ als „besten deutschsprachigen Roman“ auszeichnet. Leider wird heutzutage jedes längere Erzählwerk etwas salopp und unüberlegt als „Roman“ bezeichnet. Epos und Roman sind voneinander abzugrenzen. Bis etwa zum 16. Jahrhundert sind die frühen Romane überwiegend in Versform gehalten, von daher gesehen war die Abgrenzung vom Epos zugegebenermassen anfangs oft schwierig. Die Romantheorie von Georg Lukacs legt nun aber eine klare Trennung von Epos und Roman nahe. Sie bringt das Epos mit einem verlorenen Naturzustand in Verbindung: Epos ist die Gestaltung einer „geschlossenen Lebenstotalität“ mit festen Lebens-, Wert- und Sozialordnungen und verbindlichem Weltverständnis. Dagegen gilt der Roman als Ausdruck eines privaten Weltausschnitts und eines problematisch gewordenen Welt- und Ordnungsverständnisses.
Text und Bild: Kurt Schnidrig