Weihnacht im Sommer

Bohème und Dichter Joachim Ringelnatz flüchtete im Jahr 1911 ins Tirol und wartete mit Ratschlägen auf für alternative Weihnachten. (Am Stammtisch von Ringelnatz in Kufstein / Foto: Schnidrig)

Sommers flüchtete ich ins Tirol. Tapetenwechsel stand an. Ich begab mich auf die Spuren von Joachim Ringelnatz, er ist eine der faszinierendsten Gestalten, die durch die Literaturgeschichte getorkelt sind. Das Verb „torkeln“ bedeutet „gehen und dabei schwanken, weil man betrunken ist“. Und ja, Joachim Ringelnatz war zuweilen „trunken“, nicht nur vor Ideen, vor Imagination und Phantasie, nein auch vor Liebe und manchmal war er auch betrunken von einem oder zwei Glas Wein. Davon zeugt eine deftige Inschrift, welche die Kufsteiner über Ringelnatz‘ Stammplatz in der Weinstube „Batzenhäusl“ in der Altstadt von Kufstein angebracht haben:

„Mit einem Apfel hat die Eva den Adam verführt, mit einer Flasche Wein hats mein Mädel probiert!“

Inschrift im „Batzenhäusl“ in Kufstein (Bild oben).

Weihnachten steht vor der Tür. Warum erzähle ich Ihnen, liebe Leser*innen, von Joachim Ringelnatz‘ Eskapaden sommers in Kufstein im Tirol? Jetzt, da Weihnachten vor der Tür steht? Weil viele Familien dieses Jahr nicht wie geplant feiern können. Und weil alternative Ideen gefragt sind. Ringelnatz hatte sie, die Ideen für alternative Weihnachten, mitten im Sommer, im Batzenhäusl in Kufstein. Aktuell hat das Bundesamt für Gesundheit bei uns das Sagen. Das BAG plant, das gemeinsame Singen zu verbieten und private Treffen an Weihnachten zu beschränken. Wie aber soll denn um Himmels willen das Weihnachtsfest noch geartet sein? Soll es überhaupt stattfinden? Oder sollten wir das Weihnachtsfest vielleicht doch besser verschieben wie alle anderen kulturellen Anlässe auch? Das Weihnachtsfest womöglich auf den Sommer 2021 verschieben? Und vor allem: Wie sollte man sich denn noch beschenken können in diesen virenverseuchten Zeiten? Weihnachten 2020 soll anders werden. Aber wie anders? Ein Schweizer Start-up liefert eine grandiose Geschenkidee zum Mitmachen, mit der Kinder ihre Eltern und Grosseltern garantiert verzaubern: Masken zum selber Bemalen und Verschenken! Das Verzieren der Masken bereite den Kindern viel Freude, heisst es, und das sei ein einmaliges Geschenk für Grosseltern und Eltern. Mit Textilfarbe individuell bemalte Masken sollen den Grosseltern ein Lächeln ins Gesicht zaubern, vorausgesetzt natürlich, man sieht (oder ahnt) das lächelnde Gesicht noch unter der bemalten Maske. Unbestreitbar handelt es sich hierbei um eine alternative Geschenkidee für das so ganz andere Weihnachten des Jahres 2020. An dieser Stelle kommt Joachim Ringelnatz ins Spiel. Bereits im Jahr 1911 hatte er eine Idee für alternative Weihnachten entwickelt, sommers, im Batzenhäusl in Kufstein, schrieb er das Weihnachtsgedicht mit dem Titel „Vom Schenken“:

Schenke gross oder klein, / aber immer gediegen. / Wenn die Bedachten die Gabe wiegen, / sei dein Gewissen rein.

Schenke herzlich und frei. / Schenke dabei, was in dir wohnt / an Meinung, Geschmack und Humor, / so dass die eigene Freude zuvor / dich reichlich belohnt.

Schenke mit Geist ohne List, / Sei eingedenk, / dass dein Geschenk – / du selber bist.

Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)

Man achte auf die Schlusszeile: „Sei eingedenk, dass dein Geschenk – du selber bist.“ Wie grossartig ist das denn! Wir schenken uns selber; wir machen uns selber den anderen zum Geschenk. Eine grossartige Idee, auch für das alternative Weihnachtsfest 2020! Fragen Sie jetzt nicht, liebe Leser*innen, wie man sich selbst den anderen zum Geschenk machen könne. Mit „social distancing“, mit Maske und mit Covid-App fällt sowas bestimmt nicht leicht. Aber: Geteiltes Leid ist halbes Leid, heisst es. Auch der grosse Joachim Ringelnatz hat sich ein Leben lang bemüht, sich selber seinen Mitmenschen immer wieder zum Geschenk zu machen – und er ist oftmals grandios damit gescheitert.

Joachim Ringelnatz‘ Versuche, sich selber zu verschenken, sind bereits sehr früh gescheitert. Schon während seiner Schulzeit machte er sich für seine Mitschüler adrett zurecht. Er drapierte sich eine mädchenhafte Frisur. Zusammen mit seiner ungewöhnlich langen Vogelnase, dem vordrängenden Kinn und der kleinen Statur muss er ein seltsames Bild abgegeben haben. Die Mitschüler hänselten und foppten den Mitschüler Joachim aufs Schändlichste. Später wurde er vom Gymnasium verwiesen, weil er sich von einer Samoanerin auf den Unterarm tätowieren liess. Dabei hätte er sich mit seinem Tattoo den Lehrern, diesen „respektfordernden Dunkelmenschen“, lediglich als Geschenk darbieten wollen.

Ausgefallene Geschenk-Ideen. Sich selber zum Geschenk machen, damit versuchte Ringelnatz anderen zu gefallen. Bei einem Schausteller in Hamburg verdingte er sich als Träger von Riesenschlangen. Er half in der Schlangenbude, die Riesenschlangen herumzutragen und den Schlangentänzerinnen als Geschenk um den Hals zu hängen. Danach heuerte er in einem Seemannsheim an als „Mädchen für alles“ und beschenkte die Matrosen mit Feiern und Festgelagen. Zeitlebens neigte Ringelnatz zu kindlichen Streichen. Mit Vorliebe spielte er geschminkt den märchenhaften „Kalif von Bagdad“ vor Publikum. Er verdiente sich auch ein paar Batzen in Bordellen, wo er als Wahrsagerin verkleidet den Prostituierten die Zukunft voraussagte.

Ringelnatz‘ Unsinnspoesie als Geschenk-Idee. 1910 veröffentlichte Ringelnatz seine ersten Bücher. Es waren dies zwei Kinderbücher und ein Gedichtband. Im Dezember 1919 verfasste er die ersten Gedichte unter dem Pseudonym Joachim Ringelnatz. Zuvor hatte er Hans Gustav Bötticher geheissen. Um als Poet erfolgreich zu sein, glaubte er, sich ein Pseudonym zulegen zu müssen. Der Name „Ringelnatz“ leitete er wohl her aus „Ringelnass“, denn so nannten die Seeleute damals die Seepferdchen, die Ringelnatz oft zeichnete, bedichtete und besang. Seine erfolgreichsten Gedichtsammlungen tragen Titel wie „Kuttel Daddeldu“ oder „Das schlüpfrige Lied“.

Ein tragisches Ende. Den Aufstieg der NSDAP, der Nationalsozialisten in Deutschland, hatte Joachim Ringelnatz allzu lange nicht ernst genommen. 1930 schrieb er: „Der Hitler-Rummel lässt mich kalt.“ Die meisten seiner Bücher wurden von den Nazis verbrannt. Sie machten ihm keine Geschenke. Joachim Ringelnatz starb 1934 im Alter von 51 Jahren an Tuberkulose. Nur gerade neun Personen sollen den Sarg begleitet haben. Man spielte das Lied „La Paloma“, das war Ringelnatz‘ Lieblingslied. Sein letzter Wunsch war, man möge nach seinem Tode ein Gässchen nach ihm benennen. Gewissermassen als letztes Geschenk an ihn.

„Mein Ideal wäre, dass man nach meinem Tod ein Gässchen nach mir benennt, ein ganz schmales und krummes Gässchen, mit niedrigen Türchen, mit steilen Treppchen und feilen Hürchen, mit Schatten und schiefen Fensterluken. Dort würde ich spuken.“

Joachim Ringelnatz‘ letzter Geschenk-Wunsch

Alternative Kinderbücher zu Weihnachten! Ringelnatz war ein grosser Kinderfreund. Er veröffentlichte fünf Kinderbücher. Die beiden Bände „Geheimes Kinder-Spiel-Buch“ und „Geheimes Kinder-Verwirr-Buch“ enthalten völlig unpädagogische Spiele für Kinder: Sie sollen Tiere quälen, die Wohnung verschmutzen und Möbel zerstören, aus Exkrementen Klösse (Kugeln) kneten und anschliessend mit dem Mund auffangen, Bomben bauen mit Benzin und Feuer, andere Kinder anspucken, mit Salzsäure experimentieren und die Eltern mit angeblichen psychischen Erkrankungen ängstigen. Was Ringelnatz sonst noch in seinen Kinderbüchern verrät: Dass nicht der Storch die Kinder bringt. Was die Eltern im Schlafzimmer tun. Wie man sich gegen Erwachsenengewalt zur Wehr setzen kann.

Ein Geschenk für Literatur-Seminare. Ringelnatz‘ Kinderbücher sind als Weihnachtsgeschenke für Kinder ungeeignet. Ein Geschenk sind sie jedoch für Literatur-Seminare. Da wird bis heute debattiert, ob denn Ringelnatz‘ Bücher nun wirklich für Kinder bestimmt sind oder doch eher für Erwachsene. War Joachim Ringelnatz ein kläglicher Versager oder war er vielleicht doch ein grossartiger Literat und Pädagoge? Hat es Ringelnatz einzigartig und unnachahmlich verstanden, Kinder zu einer kritischen Haltung gegenüber Erziehungsstereotypen veralteter Kinderliteratur zu befähigen?

Darüber sollten wir nachdenken, jetzt in diesen Zeiten, da alternative Weihnachten bevorstehen. Sich selber schenken, wie auch immer. Weihnacht im Sommer. Trendige Weihnachtsgedichte aus der Weinstube „Batzenhäusl“ in Kufstein als Vorlagen und Ideengeber für eine weihnachtliche Schreibwerkstatt. Allerdings besteht die Wirkung von Ringelnatz‘ Werken vor allem darin, dass sie grotesk überzeichnet sind. Selber liebte er das Risiko nur dann, wenn es berechenbar blieb. „Wenn alle Stricke reissen, dann hänge ich mich auf“, lautet ein beliebtes Zitat von Joachim Ringelnatz.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Thema „Weihnacht – klassisch oder alternativ?“ (Quelle: rro / Kurt Schnidrig)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig