Nach den grauen Tagen abhängen inmitten der fröhlichen Italianità. Sich sattsehen an Palmen, an der Weite, am Meer. Im Land, wo die Zitronen blühn. Im Land der Romantik. In der deutschen Literatur stehen die romantischen Italien-Bilder in einer langen Tradition, die mit Goethe beginnt und mit Elena Ferrante ein abruptes Ende nimmt. In ihrem aktuellen Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ fordert sie eine neue Identität für ganz Italien. Geht es nach Elena Ferrante, hat unser romantisch-verklärtes Italien-Bild eine realistische Korrektur bitter nötig. „Italien ist ein Sumpf geworden und wir sind alle darin gelandet“, schreibt Ferrante in ihrem neuen Roman.
„Nach Italien, nach Italien! rief ich voller Vergnügen aus, und rannte, ohne an die verschiedenen Wege zu denken, auf der Strasse fort, die mir eben vor die Füsse kam.“ Dieser Satz entstammt Eichendorffs romantischer Novelle vom Taugenichts. Mit seinem „Taugenichts“ aus dem Jahr 1826 hat Eichendorff das romantische Italienbild geprägt wie kein anderer Text. Das Sehnsuchtsland Italien und seine Symbolik – das ist in der deutschen Dichtung eine prägende literaturhistorische Konstante. Viele Romantiker – wie auch Eichendorff – waren jedoch selbst gar nie in Italien. Vielleicht war dies für ihr romantisches Italienbild von Vorteil.“ (Aus: Kurt Schnidrig: Ein Leuchtturm in der Finsternis. Spurensuche, Begegnungen, Betrachtungen. Seiten 361ff.)
Elena Ferrante bricht mit diesem romantischen Italien-Bild. Geboren und aufgewachsen ist sie an der Peripethie von Neapel. Turin sei eine der wenigen italienischen Städte, die sie liebe, schreibt die Autorin. Ferrante ist nicht nur Schriftstellerin, sie ist auch Wissenschaftlerin. Sie hat einen Hochschul-Abschluss in Altphilologie. „Wahrhaftigkeit“ ist eine der herausragenden Charakteristiken, welche vor allem die US-amerikanische Literaturkritik Ferrantes Texten attestiert. Wahrhaftigkeit ist auch das schriftstellerische Credo der Elena Ferrante. Es gebe nicht bloss eine biographische, sondern auch eine literarische Wahrheit, lehrt Professorin Ferrante in ihren Kursen.
„Sie behandeln Frauen wie Ausgehhündchen, sagen bei jeder Gelegenheit Schweinereien zu dir und begrabschen dich genauso, wie es in den Autobussen hier bei uns üblich ist.“
Elena Ferrante
Auch in ihrem neusten Roman vermittelt Elena Ferrante ihr neues Italien-Bild. Vorerst geht es nur um die Identität der magischen Stadt Neapel. Doch bald wird klar, dass dies zu kurz gegriffen wäre. Es geht auch um die Installation einer neuen (weiblichen?) Identität für ganz Italien. Die Stadt Neapel ist ein Konzentrat des ganzen Landes. Es geht fürs erste darum, literarisch zu beschreiben, was das Zusammenleben im heutigen Italien so schwierig und kompliziert macht. Grundgelegt wird dieses Zusammenleben mit dem Aufwachsen und Erwachsenwerden. Kann der aktuelle Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ dem Vergleich mit Ferrantes vierbändigem Weltbestseller, der Neapel-Tetralogie „Meine geniale Freundin“ standhalten? Die Antwort lautet: Er kann, auch wenn dieses Mal eine einzige Mädchenfigur, die am Anfang fast 13 und am Ende 16 Jahre alt ist, im Zentrum steht. Eine Pubertätsgeschichte bloss? Eine Coming-of-Age-Geschichte auf jeden Fall, bestenfalls aber auch ein Erziehungs-, Erkenntnis- und Desillusionsroman. Die Erzähltechnik ist im aktuellen Roman zwar bescheidener gehalten als in seinem Vorläufer, die Fixierung auf eine einzige Protagonistin erlaubt jedoch viel psychologischen Tiefgang.
Giovanna heisst die Heldin in „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“. Giovanna ist ein wohl behütetes, intelligentes Einzelkind in einem Lehrer-Haushalt. Kaum in die Pubertät gekommen, macht ihr der Kontrast zwischen dem armseligen Leben mit mafiösen Strukturen inmitten der neapolitanischen Gesellschaft und ihrem eigenen Elternhaus zu schaffen. Giovanna wächst in einer heilen Scheinwelt auf. Zufällig eröffnet sich ihr ein Blick hinter die öffentlich perfekt getarnte Persönlichkeit ihres Vaters, der in vulgären und mafiösen Kreisen Neapels verkehrt. Als dann Giovanna auch noch Mamas diversen Liebhabern gegenübersteht, bricht ihr Heile-Welt-Bild auseinander. Wem kann sie noch trauen? Was soll ihr nun beim Heranwachsen noch den nötigen Halt geben?
Die Erinnerungsprosa einer naiven 15-Jährigen lässt aufscheinen, was in einer Pubertierenden vor sich geht: Sie inszeniert Verführung, Bedrohlichkeit, Gefahr und Risiko. Sie gibt sich experimentierfreudig um herauszufinden, wer sie wirklich ist.
Ein Quartiermafioso ist „wie ein strahlend heller Dämon, der mit beiden Händen meinen Kopf packen und mich zuerst gewaltsam küssen und mich dann so lange gegen das Autofenster schmettern würde, bis er mich getötet hätte“.
Giovanna in: „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“.
Sind dies die Gedanken einer Zwölfjährigen? Ist es einem zwölfjährigen Mädchen überhaupt möglich, derartig tiefschürfendes Gedankengut retrospektiv zu berichten? Bei der Lektüre solcher und ähnlicher Passagen dringt für den Leser etwas zu aufdringlich die Botschaft der Autorin durch, die ihre emanzipatorischen und feministischen Anliegen einer kaum den Kinderschuhen entwachsenen Protagonistin verpasst. Hin- und hergerissen zwischen einer spannenden und leicht lesbaren Soap Opera um eine neapolitanische Jugend und einer Coming-of-Age-Story mit psychologischer Tiefenbohrung fühlt man sich als Leser etwas verunsichert zurückgelassen.
„Die Wahrheit ist nicht so einfach. Wenn du gross bist, wirst du das verstehen, dafür genügen Romane nicht.“
Eine Erwachsene zu Giovanna im Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“.
Straft die Autorin Elena Ferrante durch die Installierung derartiger Passagen die Aussagekraft und die Erkenntnisse ihres eigenen Romans Lügen? Tatsache ist wohl, dass sich Bestseller-Autorin Ferrante mit der Etablierung einer neuen (literarischen) Identität für Italien gar viel vorgenommen hat. Besonders im ersten Viertel des Romans verwandelt sie ihre junge Protagonistin genussvoll in eine wahre Femme fatale, einen verführerischen Frauentypus mit magisch-dämonischen Zügen. Ihre sexuelle Neugier lebt sie mit allerhand gewagten masturbatorischen Praktiken aus. Nach 120 Seiten jedoch dekonstruiert die Autorin ihre Heldin. Giovanna belügt sich selbst genau so, wie die Erwachsenen es sie „gelehrt“ haben.
Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig