Bestseller-Autor Ferdinand von Schirach gibt der Literaturkritik Rätsel auf. Geheimnisse ranken sich um seine Person. Seit 1994 arbeitet er als Anwalt und Strafverteidiger in Berlin. Zu seinen bevorzugten Mandanten gehören Prominente und Angehörige der Unterwelt. Als literarischer Autor erzählt er Geschichten, die auf Fällen aus seiner Kanzlei basieren. Einer seiner weltweiten Bestseller trägt den Titel „Schuld“. Es sind spektakuläre und unglaubliche Fälle, die der Verteidiger zu Papier bringt. Immer wieder geht er hauptsächlich der Frage nach der Schuld auf den Grund. Denn Schuld habe immer eine moralische Ebene, ist Ferdinand von Schirach überzeugt.
„Ich verteidige nicht die Tat. Ich verteidige stets nur den Menschen. Mich interessiert die Frage der Schuld. Ist sie so offensichtlich, wie sie zunächst scheint? Die Schuld kann nur beurteilt werden, wenn man den Menschen und seinen Lebensweg betrachtet.“
Ferdinand von Schirach
Der Erzählband „Schuld“ ist ein Klassiker unter den literarischen Werken von Ferdinand von Schirach. Die schaurigen und mysteriösen Fälle, von denen der Strafverteidiger berichtet, führen tief in die menschlichen Abgründe hinein. Nicht selten ist zwar die Schuld der Beteiligten offensichtlich, es kommt jedoch zu keiner Anklage. Bei der Lektüre der „Fälle“ taucht für den Leser unweigerlich irgendwann die Frage nach dem Wahrheitsgehalt auf. Wie kann sowas möglich sein? Ist ein derart gerüttelt Mass an Perversion und Gefühlskälte bei Menschen überhaupt möglich? Schriftsteller von Schirach ist ehrlich. Er gesteht, dass die Storys aus verschiedenen Fällen zusammengesetzt sind. Einzelne Teile seien wahr, aber der Fall, so wie er im Buche steht, habe sich so nicht zugetragen. Mit Ausnahme vielleicht von seinem „ersten grossen Fall“.
„Wir hätten über den Sieg der Verteidigung sprechen können. Aber wir wussten, dass wir unsere Unschuld verloren hatten, und dass das keine Rolle spielte. Wir waren erwachsen geworden, und als wir ausstiegen, wussten wir, dass die Dinge nie wieder einfach sein würden.“
Ferdinand von Schirach über seinen „ersten grossen Fall“. In: „Schuld“, Seite 18.
Sein erster grosser Fall. Was war geschehen? Bei einer Jubiläumsfeier irgendwo in einer deutschen Kleinstadt spielt eine Blaskapelle. Die Männer haben sich närrisch kostümiert, sie haben sich Bärte angeklebt und Perücken aufgesetzt. Allesamt waren sie „ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen“: Es gab nichts an ihnen auszusetzen. „Fast alle waren verheiratet, sie hatten Kinder, bezahlten ihre Steuern und sahen abends die Tagesschau.“ Es waren ganz normale Männer, und niemand hätte geglaubt, dass so etwas passieren würde. Sie schwitzten und hatten zu viel getrunken. Sie spielten trotzdem. Die Holzbretter vor der Bühne staubten, weil die Menschen trotz der Hitze tanzten. Die Musiker gingen dann hinter den Vorhang, um zu trinken. Das Mädchen war siebzehn. Sie war hübsch, ein offenes Gesicht mit blauen Augen, und sie lachte während sie kellnerte. Als sie ausrutscht und hinfällt, ergiesst sich das Bier über ihr weisses T-Shirt, und weil sie keinen Büstenhalter trägt, zeichnen sich ihre Brüste ab. Die Männer verstummen. Ein anonymer Anrufer alarmiert die Polizei. Die Beamten finden die Siebzehnjährige nackt und besudelt unter der Bühne. Man hat ihr zwei Rippen, die Nase und den linken Arm gebrochen. Als die Männer fertig gewesen waren, hatten sie ein Brett angehoben und sie unter die Bühne geworfen. Die Polizei stellt zwar die Kleidung des Mädchens sicher, aber als das Polizeiauto stundenlang in der Sonne steht, bilden sich Pilze und Bakterien, welche die Asservate für eine DNA-Analyse unbrauchbar machen. Und die Ärzte im Krankenhaus wischen nicht nur die Haut der Vergewaltigten ab, sondern beseitigen auch die Spuren an ihrem Körper. Das Opfer ist nicht in der Lage, die Männer zu erkennen, die sie vergewaltigt hatten, denn mit ihren Perücken und angeklebten Bärten sahen sie alle gleich aus. Zumindest einer von ihnen ist aber unschuldig, denn er rief die Polizei. Aber er gibt sich nicht zu erkennen. Dem Untersuchungsrichter bleibt nichts anderes übrig, als alle Beschuldigten frei zu lassen. Zu einer Anklage kommt es nicht. (Aus: Ferdinand von Schirach: „Schuld“, Piper Verlag, Seiten 7-18).
Sind Synästhet*innen die besseren Literaten? Wer es schafft, derart vielschichtige Geschichten zu Papier zu bringen, der ist nicht selten ein „Synästhetiker“, auch „Synästhet“ genannt. Nach eigener Aussage ist von Schirach Synästhetiker. Kurz erklärt: Ein Synästhetiker verfügt über eine neuronale Gehirnstruktur, bei der verschiedene Gehirnareale auf besondere Art und Weise miteinander in Verbindung stehen. Dadurch werden bestimmte Wahrnehmungs-Phänomene und Denkprozesse ermöglicht, die in einem üblichen „neurotypischen“ Gehirn nicht möglich sind. Das Wort Synästhesie ist abgeleitet von den altgriechischen Wörtern syn (= zusammen) und aisthesis (= Empfinden). „Synästhesie“ bedeutet mithin also breitgefächerte Wahrnehmung aufgrund von zusätzlichen neuronalen Verbindungen zwischen zwei oder mehreren Gehirnarealen, die Sinnesreize wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen usw. verarbeiten. Synästhet*innen verfügen damit über erhöhte Kreativität, bessere Merkfähigkeit, intensivere Vorstellungskraft, Denken in Bildern, ausgeprägte Detailwahrnehmung, verstärkte Sensibilität für Sinneswahrnehmungen und vor allem verfügen sie über erhöhte emotionale Empathie.
Die Forschung zur Synästhesie ist noch jung, sie ist aber zurzeit angesagt und liefert spannende Ergebnisse. Die Synästhesie ist ein faszinierendes Phänomen, das erklären könnte, weshalb Literaten, Autoren und Schriftsteller mehr und besser sehen, riechen, fühlen und empfinden können als die „Normalos“ in unserer Gesellschaft. Am Beispiel des Strafverteidigers und Bestseller-Autors Ferdinand von Schirach liesse sich demnach die These postulieren: Ferdinand von Schirach ist mit Bestimmtheit ein guter Strafverteidiger. Weil er aber zusätzlich auch noch Synästhetiker ist, kann er die nüchternen „Fälle“ aus seiner Praxis zu weltbewegenden Storys umgestalten.
Text und Bild: Kurt Schnidrig