In diesen Tagen erscheint die Neuauflage des Romans „Honigbauch“ von Dr. Gottlieb Guntern. Die Erstauflage kam bereits im Jahr 2019 im damaligen Rottenverlag heraus. Damals hatte ich mich nach der Lektüre von „Honigbauch“ auf Spurensuche begeben. Inmitten der mythologisch-mystischen Szenerie auf Zypern endet der Roman, einer antiken Tragödie gleich, in einem grandiosen Schlussfurioso. In den Grundzügen ist das über sechshundert Seiten starke monumentale Romanwerk des Psychiaters und Kreativitätsforschers Dr. Gottlieb Guntern unverändert geblieben.
Die Protagonistin in „Honigbauch“ trägt einen wohlklingenden Namen. Madame Babette La Pelouse-de-Perpignan, kurz Madame Babette, residiert mit ihrer Entourage in einem Ferienparadies in den südlichen Schweizer Alpen. Aus Sicht ihrer Bediensteten ist sie wie die Choreografie eines Tanzes, „ein Wechselbad von Locken und Blocken, Einladen und Ausladen, Umschmeicheln und Erniedrigen“. In ihren Träumen fühlt sie sich verfolgt. Der Tod ist hinter ihr her, er kreist sie ein wie ein Wolfsrudel in der arktischen Tundra eine Rentierherde umringt. Ihr Leben ist Warten. Warten darauf, dass der Kairos kommt, der Gott des strategisch günstigen Augenblicks, und dass der Killer auf sie einzoomt. Von irgendeinem Tatarenprinzen aus Kazan stammen zwei Gemälde, auf denen dieser die Splitter ihrer Identität zusammengefügt hat: „Das Gastmahl“, den Tod darstellend, und „Kairos oder die Bienenkörbe“, die Sinnlichkeit symbolisierend.
Im ersten Teil des Buchs konfrontiert uns der Autor mit Madame Babettes Aggressionen. Sie erscheint uns bald als „eine reiche Metze“, bald als „feuerspeiender Drache“. Die Aggression auf unserem Planeten beinhalte täglich gedachte Verwünschungen, Rachefantasien und banale Gemeinheiten, vermittelt uns die auktoriale Rede. Madame Babette malträtiert ihr Gefolge. Für Dynamik in Madame Babettes tristem Dasein in der Gondolfière, ihrer Villa, sorgen ungeklärte Todesfälle unter den Bediensteten.
„Vor allem bist du ein wehrloses Weib, das seine Hilflosigkeit hinter der Maske der Aggression verbirgt.“
Geheimpolizist Sylvain Evanant in: „Honigbauch“, Seite 147
Das Geheimnis der lächelnden Leichen. Im Mittelteil des Buchs übernimmt Geheimpolizist Sylvain Evanant die Aufklärung der mysteriösen Todesfälle. Opfer gibt es keine, alle scheinen eines natürlichen Todes gestorben zu sein, in den besten Jahren und „nicht im Grenzbereich“. Die Gondolfière wird zu einer Leichenhalle. Die Kafkaesen, die Einwohner von Cafca-le-Soleil, sind sich einig: Unheimliche Dinge ereignen sich und die Polizei ist machtlos. Gerüchte gehen um im Ferienparadies. Wurden die Leichen vergiftet? Liegt ein Fluch auf der Gondolfière von Madame Babette? Hat die heilige Anna, die Schutzpatronin aller Angestellten, den Leichen ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert? Oder steckt gar ein Serien-Killer der Mafia dahinter? Undurchsichtig und komplex präsentieren sich die Vorfälle. Undurchsichtig wie Byluskis Bildkomposition. „Vor allem bist du ein wehrloses Weib, das seine Hilflosigkeit hinter der Maske der Aggression verbirgt“, diagnostiziert der Polizist, und der starrt beim Verhör jeweils über den Kopf der befragten Person hinweg auf den Bauch der Honigvenus im Kairos-Gemälde. Der Autor ködert seine Lesenden mit Vorausdeutungen. Ein geheimnisvoller Heiler taucht auf. Tungsten Khan heisst er, und dieser lässt Madame Babette die Fragmente der beiden Gemälde zusammenfügen, denn Madame ist „ein Sammelsurium von Anekdoten ohne kohärente Geschichte“.
„Sie sind wie Ihre Gemälde. Voller Fragmente. Ein Sammelsurium von Anekdoten ohne kohärente Geschichte.“
Tungsten Khan zu Madame Babette, in: „Honigbauch“, Seite 223
Madame Babette begibt sich auf den Pfad der Erkenntnis. Einer irren Privatlogik folgend, lässt sie sich von Tungsten Khan und Gefolge in eine andere Welt entführen. Zypern ist das Scharnier zwischen zwei Welten. Dort soll Madame Babette ihr eigenes Puzzle zusammenfügen und mit den Gemälden vergleichen. Eine dreifache Aufgabe wartet auf sie: Die rätselhaften Todesfälle aufklären, die beiden Gemälde wieder zurückerhalten und dem Mörder entgehen. Tungsten Khan und Gefolge haben vom psychotischen Mörder ein Phantom-Porträt erstellt, ein Identikit. Sie nennen ihn fortan Palianthropos, was Halunke bedeutet.
Schlussfurioso einer antiken Tragödie. Auf dieses Andante in Gunterns Roman folgt im dritten Teil des Buchs ein dramatisches Finale. Die Identität von Babette und jene von Zypern überlagern sich semantisch. Liebe, Intrige und Tod, die drei mythischen zypriotischen Themen, kulminieren, grandios inszeniert, im Bad der Aphrodite. Madame Babette, zusammen mit dem nackten Palianthropos im Bad, glüht wie die Morgenröte, ihr Hirn überschwemmt mit biochemischen Substanzen.
„Palianthropos hat die Gemälde geraubt: das Doppelporträt meiner gespaltenen Identität.“
Madame Babette in: „Honigbauch“, Seite 563.
Der grosse Tungsten Khan muss erst den Schlafgott Hypnos und den Todesgott Thanatos vertreiben, damit Madame die einzelnen Elemente ihrer Identität zusammenzufügen imstande ist. Nun erst erzählt sie die wahre Version ihrer eigenen Lebensgeschichte.
Psychiatrischer Subtext. Guntern bemüht viel Mythologie und aristotelische Theaterelemente. Er weiss, was er als Seelenarzt zu bieten hat. Genüsslich zieht er als auktorialer und allwissender Erzähler alle Register, fokussiert in personalem Erzählen auf Protagonistin Madame Babette. Dabei bedient er sich ungeniert aus dem reichen Fundus der antiken Mythologie. Er vermag uns über 600 Seiten lang zu unterhalten mit einer Geschichte über eine Psychopathin, die wir prima vista wohl am liebsten in einer geschlossenen Psychiatrieabteilung versorgt wissen möchten. Doch als der Autor zum finalen Schlussgang lädt und einen grandiosen Showdown inszeniert, gesteht er seiner psychotischen Protagonistin die ganz grosse Bühne zu. Er läutert Madame Babette zur Hauptdarstellerin einer antiken Tragödie und befreit sie von Palianthropos, indem er diesen in eine raffinierte Falle stolpern lässt, die sich der geniale Tungsten Khan ausgedacht hat.
Inmitten der grandiosen Kulisse eines antiken Amphitheaters auf Zypern lässt der Autor seine Protagonistin Babette ihren inneren Riss spektakulär heilen.
Kurt Schnidrig
Einer griechischen Göttin gleich befiehlt die Protagonistin den rächenden Adler vom Himmel herunter, und wir bemerken verwundert den psychiatrischen Subtext dieses opulenten mythisch-mystischen Romans: Schizophrenie ist besiegbar und Persönlichkeitsspaltung lässt sich heilen. Tröstlich erfahren wir, dass aus Säure immer wieder Fruchtzucker wird und aus innerer Zerrissenheit ein wärmender Honigbauch.
Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig