Als Experte für das Fach Deutsch bei den Maturitätsprüfungen am Kollegium Brig durfte ich mich während der vergangenen Tage vom literarischen Fachwissen der Maturand*innen überzeugen lassen. Wie wichtig neben dem Intelligenz-Quotienten auch der emotional-soziale Quotient ist, hatten die Studierenden während des virenverseuchten Schuljahrs ganz besonders unter Beweis zu stellen. „Eine Gesellschaft, welche das überstanden hat, wird auch weitere Krisen, die kommen werden, überstehen“, schreibt Prorektor Gerd Dönni im wunderschön aufgemachten und äusserst präsentablen Maturabuch, das die Maturand*innen originell und phantasievoll gestaltet haben.
Breites literarisches Fachwissen. Das Spektrum an Allgemeinwissen bei Maturand*innen ist beeindruckend. Erstaunt und freudig gestimmt hat mich als Deutsch-Experte die Tatsache, dass nebst dem üblichen Literatur-Kanon nun auch je länger je mehr topaktuelle Autor*innen im Themenkatalog für Matura-Prüfungen aufgeführt sind. Erst in diesem Frühjahr erschienen und bereits als Prüfungsstoff in den Themenkatalog für die mündliche Prüfung aufgenommen – sowas spricht auch für die bestens ausgewiesenen und motivierten Mittelschul-Lehrpersonen. Aktuelle Romane wie zum Beispiel „Über Menschen“ von Juli Zeh liefern zweifellos brisante Stoffe, welche für brandheisse Diskussionen sorgen. „Über Menschen“ gilt als „das Buch der Stunde“, weil es davon handelt, was viele von uns in den vergangenen Monaten beschäftigt hatte: Es geht um das Eingeschlossensein im Lockdown der Städte, um die Einsamkeit in virenverseuchten Zeiten, um die verstörende Angst vor der Pandemie und folgerichtig um die Flucht aus der Stadt aufs Land. Dass trotz der aktuellen Einschübe von Gegenwarts-Literatur auch der historische Literatur-Kanon nicht zu kurz kommt, ist dem Allgemeinwissen geschuldet. Das Wissen heutiger Maturand*innen umfasst die literarischen Epochen des Biedermeier, des jungen Deutschland, des Realismus, des Naturalismus, des 20. Jahrhunderts, des Expressionismus, der Weimarer Republik, der Deutschen Literatur im Exil, der Literatur nach 1945, der Literatur in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, gefolgt von modernen Klassikern wie etwa „Das Parfum“ von Patrick Süskind, „Schlafes Bruder“ von Robert Schneider, „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink, „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann oder „Der Trafikant“ von Robert Seethaler. Dies nur eine beispielhafte Auswahl aus dem breiten Angebot.
Literaturtheoretische Ansätze. Maturand*innen verfügen heutzutage über ein recht fundiertes germanistisches Grundlagen-Wissen. Es genügt nicht, den Inhalt eines Werkes nacherzählen zu können. Die Fähigkeit, literaturtheoretische Ansätze und Analysemethoden an einem belletristischen Werk festmachen zu können, gehört mit zum literarischen Fachwissen. Heutige Maturand*innen verfügen über die Möglichkeit, verschiedene Interpretationsansätze anwenden zu können. Die Grundbegriffe der Erzähltechnik und der Textanalyse sollten an einem literarischen Werk erkannt und an Textstellen verifiziert werden können. Maturand*innen referieren nicht nur zwanglos über die Merkmale der literarischen Gattungen, sie verfügen auch über Analyse-Werkzeuge, mit deren Hilfe sie etwa die Sprach-, Symbol- und Motivgestaltung eines Werks wissenschaftlich herausarbeiten können. Die geistesgeschichtlichen Hintergründe und die gesellschaftliche Einbettung eines belletristischen Werkes erfordern ein interdisziplinäres Fachwissen. Je nach Schwerpunktsetzung der Deutschlehrpersonen kommen Spezialgebiete zum Zuge wie etwa die rhetorische Textanalyse mit Figuren wie der Anapher, der Alliteration, der Assonanz, der Metonymie oder der Synästhesie. Nicht zuletzt hat auch die vergleichende Literaturwissenschaft bei Maturaprüfungen Eingang gefunden. Wie lassen sich beispielsweise Wissenschaftlerdramen vergleichen? Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ mit Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“? Oder: Robert Schneiders Entwicklungs- Bildungs- und Künstlerroman „Schlafes Bruders“ mit Patrick Süskinds „Das Parfüm“?
Die Matura als ein Antivirenprogramm? Das diesjährige Cover des Maturabuchs vergleicht die Matura mit einem Antivirenprogramm. Gleich im Vorwort relativiert Rektor Gerhard Schmidt den Begriff „Virus“ und weist darauf hin, dass Viren gemeinhin negativ konnotiert seien. Als Naturwissenschafter sehe er das allerdings differenzierter. Viren seien auch faszinierende, spannend aufgebaute, äusserst divers agierende Strukturen der Natur. In der modernen Medizin würden sie gar als Vektoren, als sogenannte Gentaxis, funktionieren. Als Paradebespiel erwähnt Rektor Gerhard Schmidt den Mechanismus der aktuellen Corona-Impfung. Der Mensch adaptiert natürliche Prozesse zu Gunsten der Gesellschaft. Voraussetzung dafür sei aber stets eine gute Bildung.
„Ihr sollt fähig sein, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, wobei es nicht allein bei der Fähigkeit bleiben sollte. So gesehen ist der Vergleich mit den oben beschriebenen Gentaxis gar nicht so abwegig. (…) Ihr tragt eine grosse Verantwortung; denn wie die Geschichte lehrt, werden faszinierende Errungenschaften in Wissenschaft und Technik auch zweckentfremdet.“
Rektor Gerhard Schmidt im Vorwort des Maturabuchs
Im Sinne eines Antivirenprogramms kann eine Matura als Instrument für den Einstieg in Wirtschaft, Wissenschaft, Sprache und Literatur dienen. Gemeinhin sagt man, dass Menschen mit gymnasialer Bildung nie so viel wissen wie zum Zeitpunkt der Matura. Gerade diese Feststellung sei aber auf den zweiten Blick eine Diskreditierung, mahnt Rektor Schmidt, denn Leute mit einem breiten Horizont würden sich durch eine stete Weiterbildung auszeichnen. „Nehmt daher die Matura als Basis für euren weiteren Lebensweg“, empfiehlt der Rektor im Vorwort des Maturabuchs. Allen erfolgreichen Maturand*innen und Diplomand*innen gratulieren wir von Herzen und wünschen einen beglückenden Start in den neuen Lebensabschnitt.
Text und Fotos: Kurt Schnidrig