Publikumsentscheid in Visp: Der 78-jährige Herr Gärtner darf selbstbestimmt sterben!

Im Schirach-Stück „Gott“ konnte das Publikum zusammen mit dem achtköpfigen Ethik-Rat mitentscheiden: Darf Herr Gärtner (vierter von links) selbstbestimmt aus dem Leben scheiden? (Foto: Kurt Schnidrig)

Ferdinand von Schirach ist bekannt als Bestseller-Autor von spektakulären Erzählungen über Verbrechen und über Schuld. Sein Stück „Gott“ ist auch schon verfilmt worden und wurde nun als Theaterstück präsentiert. Am Samstagabend, 8. Oktober, gab das EURO-STUDIO Landgraf das Stück „Gott“ auf der Bühne des Theaters La Poste in Visp. Am Schluss konnte, durfte oder musste das Publikum mitentscheiden über Leben oder Tod eines sterbewilligen 78-jährigen Mannes.

Im Schauspiel „Gott“ setzt sich der Autor und Jurist Ferdinand von Schirach mit dem kontrovers diskutierten Thema „Sterbehilfe“ auseinander. Am Schluss hat der Theaterbesucher zu entscheiden, ob man dem Wunsch einer Frau (in Visp war es der Wunsch eines Mannes) entsprechen soll, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Es handelt sich dabei um einen gewissen Herrn Gärtner, er ist 78-jährig. Seit seine Frau an Krebs verstorben ist, sieht Herr Gärtner in seinem Leben keinen Sinn mehr. Aber ein Medikament, das es ihm erlauben würde, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, wird ihm verweigert. Seine Ärztin hat ethische Bedenken und will ihm die todbringende Dosis Natrium-Pentobarbital nicht verschreiben. Jetzt soll der Ethikrat entscheiden. Juristische, medizinische und theologische Sachverständige streiten leidenschaftlich.

Hat der Mensch das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben? Dürfen die Ärzte beim Suizid helfen? Und: Wem gehört eigentlich unser Leben? Uns? Oder dem Staat? Oder gehört unser Leben dem lieben Gott?

Die rechtliche Situation bezüglich einer Sterbehilfe präsentiert sich in der Schweiz etwas anders als in Deutschland. Das Bundesgericht hat die rechtliche Frage mehrheitlich geklärt. Natrium-Pentobarbital kann und darf mit wenigen Ausnahmen auf Wunsch einer Patientin oder eines Patienten ohne strafrechtliche Konsequenzen verabreicht werden. Es bleiben jedoch immer ethische und moralische Bedenken und Zweifel bestehen. Sterbehilfe-Organisationen wie Exit kritisieren, dass in der Praxis die Suizidhilfe massiv erschwert werde.

Vor diesem Hintergrund spielt das Theaterstück „Gott“ von Schirach. Hat der Mensch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben? Dürfen Ärztinnen und Ärzte beim Suizid helfen? Das Publikum im Theater La Poste in Visp entschied mit 96 Ja-Stimmen und mit 31 Nein-Stimmen sowie etlichen Enthaltungen, dass Herr Gärtner, 78-jährig, selbstbestimmt aus dem Leben scheiden darf und dass ihm das todbringende Natrium-Pentobarbital verabreicht werden soll.

Matheo Eggel, Lehrer für Deutsch und Geschichte am Kollegium Brig, gab im Theater La Poste eine Einführung und erläuterte das Stück „Gott“ im Interview. (Foto: Kurt Schnidrig)

Hervorragende Schauspieler zeigten die verschiedenen Argumentations-Linien zur Thematik auf und führten im Theater La Poste mit Engagement eine sehr ernsthafte und berührende Debatte. Eigentlich fehlte alles, was ansonsten ein Bühnenstück ausmacht. Kein Humor, kaum ein Bühnenbild, wenig Identifikations-Möglichkeiten waren auszumachen. Ganz im Stil eines Brechtschen Theaters wurden wir Zuschauer auf uns selbst zurückgeworfen. Jede und jeder war in diesen dramatischen Diskurs eingebunden: Wer bestimmt über mein Leben? Wer entscheidet über unseren Tod?

Die Tragik der Hauptperson bewegte und berührte das Publikum. Während des Stücks war ein dramaturgischer Stilbruch zu konstatieren, der nicht wenigen Zuschauerinnen und Zuschauern ans Herz rührte. Plötzlich erschien nämlich auf der Leinwand das Porträt der sterbenden Ehefrau. Richard Gärtner, der Ehemann, verabschiedete sich in herzzerreissenden Gesten von seiner Frau. Eine wahrhaft ergreifende Zäsur. Die überzeugende Ensemble-Leistung der Truppe vom Euro-Studio Landgraf unter der Regie von Miraz Bezar hätte tosenden Applaus verdient. Doch, bewegt und betroffen, wagten nicht alle von uns, laut in die Hände zu klatschen, nachdem man mehrheitlich einem Menschen Tür und Tor ins Totenreich geöffnet hatte.

Matheo Eggel, Lehrer für Deutsch und Geschichte am Kollegium Brig, stellte im rro-Interview den Entscheid des Theater-Publikums von Visp in einen Zusammenhang. Zwei Drittel stimmen für ein Ja, ein Drittel stimmt für ein Nein zur Sterbehilfe. Das sei ein Verdikt, wie es auch an vielen anderen Spielorten bereits gefällt worden sei, sagt Matheo Eggel. Er weist auch darauf hin, dass sich die rechtlichen Grundlagen in Deutschland und in der Schweiz merklich unterscheiden. Der Entscheid biete viele Möglichkeiten zur Interpretation, fasst Matheo Eggel zusammen. Rechtlich bestünden bezüglich der Sterbehilfe zwar inzwischen einigermassen gesicherte Grundlagen, moralisch und ethisch jedoch seien nach wie vor schwerwiegende Zweifel angebracht.
Hören Sie den Podcast aus der Sendung Literaturwelle zum Stück „Gott“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Stefanie Sterren)
Hören Sie das Gespräch mit Matheo Eggel. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Stefanie Sterren)

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig