Warschau wirkt in diesen Oktobertagen auf den ersten Blick, als hätte die Winterkälte aus dem Osten bereits die letzten warmen Sonnenstrahlen nach Süden verdrängt. Hier in Polen führt die dramatische Familiengeschichte von Marta – der Protagonistin in Hürlimanns Roman – weit zurück in die eigene Kindheit, wo alles begann. Hatte Martas Mutter ihr Leben lang eine Lebenslüge in sich verschlossen? Hürlimanns Roman ist jedoch nicht nur ein Mutter-Tochter-Drama, die Autorin erzählt auch die Geschichte einer Emigration. Der Roman erhält durch die Ereignisse in der Ukraine eine aktuelle Bedeutung.
Alles beginnt mit den Ereignissen im kommunistischen Polen während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Während der Wirren des Kriegs wächst Marta zusammen mit ihrem Zwillingsbruder in einer Familie auf, in der Kinder ungleich behandelt werden. Die Mutter bevorzugt den Sohn, der gar zum Liebling der Mutter avanciert. Ein klassisches Mutter-Tochter-Beziehungsproblem ist damit vorprogrammiert. Marta bleibt nichts anderes übrig, als sich frühzeitig abzunabeln und selbständig zu werden.
Das kommunistische Polen liefert den Hintergrund zum Roman „Martas Lüge“. Stellvertretend für die wechselhafte Geschichte Polens steht der „Palac Kultury i Nauki“, der sich mitten in der Stadt Warschau 237 Meter gen Himmel erhebt und von überall her zu sehen ist. Der prunkvolle Prachtbau trug einst den Namen „Josef-Stalin-Kultur-und-Wissenschaftspalast“. Das monumentale Gebäude ist ein Geschenk der Sowjetunion unter dem Diktator Josef Stalin an Polen. Heute nennen viele Warschauer den Prunkbau immer noch „Stalinstachel“.
Martas Familie muss aus dem kommunistischen Polen flüchten. In Deutschland findet sie eine neue Heimat. Doch Marta findet auch in Deutschland keine Ruhe. Sie traut ihrer Mutter nicht mehr, denn sie gibt ihr immer wieder neue Rätsel auf. Warum kann die Mutter plötzlich fliessend Deutsch sprechen, obschon sie in Polen gelebt hat? Das Geheimnis, das Martas Mutter in sich trägt, drängt nach Aufklärung. Marta hat inzwischen ein Medizinstudium aufgenommen und ergänzt dieses später in der Schweiz mit einem Lehrgang in Psychiatrie. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Martas Mutter wird gebrechlich und krank. Ihr Sohn, Martas Bruder, verfällt der Drogensucht und hat mit psychischen Problemen zu kämpfen.
Nach dem Tod der Mutter erfährt Marta viel Ungeheuerliches über deren Lebenswandel. Warum nur hatte die Mutter ihre Vita, ihren Lebenslauf, gefälscht? Warum hatte sie unter falschem Namen gelebt? Weshalb hatte sie ihr Geburtsdatum abgeändert? Warum haben sich in ihrer Familiengeschichte so viele Ungereimtheiten eingeschlichen? Marta stellt Nachforschungen an und erfährt allmählich, dass die Mutter eine ganz andere Person gewesen war. Mit dem Mutterbild, das Marta all die Jahre in sich getragen hatte, lassen sich die schockierenden Erkenntnisse nicht in Einklang bringen.
Ein Roman mit autobiografischem Hintergrund? Auch die Autorin Monika Hürlimann ist in Polen aufgewachsen. Auch sie ist mit ihrer Familie illegal nach Deutschland ausgereist. Nach der deutschen Wiedervereinigung erlernte sie die deutsche Sprache. Wie die Protagonistin in ihrem Roman, studierte auch Monika Hürlimann in Berlin zuerst Medizin und wanderte danach in die Schweiz aus. Die Romanstory präsentiert sich somit als eine Mischung aus autobiografischem Sachbuch und fiktivem Roman. Beim Lesen hat man sich allerdings in Geduld zu üben. Erst auf den letzten Seiten lüftet sich der Schleier, der bis anhin das Geheimnis um Martas Mutter umhüllte. Ein schockierender Lebenslauf wird sichtbar. An dieser Stelle sei nur so viel verraten: Hintergründig dreht sich die Story auch um die Frage, wie man mit einer Lebenslüge alt werden kann, und was dann passiert, wenn ein Doppelleben plötzlich auffliegt und der wahre Mensch, das echt gelebte Leben, unvermittelt zum Vorschein kommt.
Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig