Meerjungfrauen erobern die Literatur. Seit in diesem Frühjahr „The Shape of Water“ von Regisseur Guillermo del Torro mit dem Oscar als bester Film ausgezeichnet worden ist, boomen die Meerwesen. Die Meerjungfrauen haben in der Gunst des Publikums alle anderen Fabelwesen abgelöst. Die Meerjungfrauen verdrängen die Vampire, die Einhörner, die Zombies, die Engel und die Halbgötter. Dabei geben sich Meerjungfrauen rätselhaft und geheimnisvoll. Passend dazu fotografierte meine Künstler-Kollegin Chiara De Maria in Leukerbad ein hochalpines Exemplar von einer Meerjungfrau (Bild).
Nixen und Wasserfrauen bevölkern Märchen und Sagen in ganz Europa. Soeben erschienen ist die Sammlung „Märchen von Nixen und Meerjungfrauen“ von Barbara Stamer. Darin begegnen uns viele verschiedene Meerjungfrau-Typen. In den Märchen und Sagen geistern Wassernixen, herzensgute Meerfrauen, von der Liebe enttäuschte Undinen oder gar zerstörerische Sirenen herum. Ebenfalls druckfrisch erschienen ist ein Roman von Imogen Gowar mit dem Titel „Die letzte Reise der Meerjungfrau“. In dieser Geschichte ereignet sich Furchtbares. Einem Kaufmann gelingt es, eine Meerjungfrau zu erwischen und zu fangen. Er wünscht sich eine dieser Meeresschönheiten mit goldenem Haar und schillernden Schuppen an seiner Seite. Doch leider ähnelt die Gefangene eher einem hässlichen Kobold. Damit ist in dieser Story ein Konflikt vorprogrammiert…
Die verführerische Loreley lässt grüssen. Die Lore-Ley oder das Lied von der Loreley ist ein Gedicht von Heinrich Heine aus dem Jahr 1824. Das Gedicht geht auf die Loreleysage zurück. Zusammen mit der Melodie von Friedrich Silcher zählt es zu den bekanntesten deutschen Volksliedern aus der Romantik. Darin geht es um eine verschmähte Liebe. Psychologen und Psychiater haben sich die Loreley als begehrtes Studienobjekt auserkoren. Die Loreley kämmt sich mit einem goldenen Kamm, was sich als narzisstische Geste deuten lässt. Die Verbindung von Eitelkeit, Verführbarkeit und Vergänglichkeit erinnert an das sogenannte Vanitas-Motiv aus der Romantik. Hinter der Maske der Schönheit lauert der Tod, dies die Botschaft des Vanitas-Motivs.
Das Rätselhafte und Geheimnisvolle der Loreley prägt bis heute die Vorstellung von Meerjungfrauen: Ich weiss nicht, was soll es bedeuten, / dass ich so traurig bin, / Ein Märchen aus uralten Zeiten, / das kommt mir in den Sinn. / Die Luft ist kühl und es dunkelt, / Und ruhig fliesst der Rhein; / Der Gipfel des Berges funkelt, / im Abendsonnenschein. / Die schönste Jungfrau sitzet dort oben wunderbar, / ihr gold’nes Geschmeide blitzet. / Sie kämmt ihr goldenes Haar, / sie kämmt es mit goldenem Kamme, / und singt ein Lied dabei. / Das hat eine wundersame, gewaltige Melodei. / Den Schiffer im kleinen Schiffe, / ergreift es mit wildem Weh, / er schaut nicht die Felsenriffe, / er schaut nur hinauf in die Höh‘. / Ich glaube, die Wellen verschlingen / am Ende Schiffer und Kahn, / und das hat mit ihrem Singen / die Loreley getan.
Die Meerjungfrau als moderne Trendfigur. Warum aber kehrt das Wasserwesen aus der Romantik in die heutige Zeit zurück? Der Rückzug ins Private, die Weltflucht vieler Zeitgenossen, mag dazu beitragen. Gelten doch Meerjungfrauen als Wesen, die auf dem Meeresgrund ein beschauliches Dasein fristen. Dazu kommt, dass Meerjungfrauen als entsexualisierte Wesen gelten. Wie eine Meerjungfrau Liebe macht, das entzieht sich unserer Vorstellung. Das passt in unsere hypersensible Zeit mit der MeToo-Bewegung, in der feministische Kreise schon einen unschuldigen Flirt als heikel empfinden.
Selber eine Meerjungfrau werden? Katrin Gray ist Unterwasser-Model und Tauchlehrerin. Sie hat nun die weltweit erste Meerjungfrauen-Schule eröffnet. In ihrem Buch „Mermaiding“ zeigt sie, wie man sich selber in eine Meerjungfrau verwandeln kann. Sie lehrt uns die passende Schwimmtechnik, die Atmung, und sie klärt uns auf über die passende Ausrüstung.
Doch was eigentlich ist mit den Wassermännern? Im Oscar-prämierten Film „The Shape of Water“ wird Wasser zu einer Metapher für die Liebe. Sowohl das Wasser als auch die Liebe können vielerlei Formen annehmen. Im Melodram von Guillermo de Torres verliebt sich die stumme Putzfrau Elisa in einen Wassermann, den sie in einem Forschungslabor entdeckt. Das Publikum applaudiert dem Film weltweit. Der namenlose und verständnisvolle Amphibienmann ist aktuell der Traummann vieler moderner Frauen.
Text: Kurt Schnidrig. Foto: Chiara de Maria, mit freundlicher Genehmigung.