Die Jagdsaison läuft auf Hochtouren. Rund 2400 Jäger sind bei uns auf der Hochjagd. Zum Abschuss freigegeben sind 2100 Hirsche, 1600 Rehe und 2500 Gämsen. Die Jägerinnen und Jäger wünschen sich gegenseitig „Weidmannsheil!“ Was für die Jägerschaft „Heil“ bedeutet, erweist sich für Hirsch, Reh und Gämse oftmals als Unheil. Dann zum Beispiel, wenn einer Hirschkuh ihr Kalb weggeschossen wird. Die Gefühlswelt der Tiere ist reicher als bisher gedacht. Die Trauer einer Hirschkuh um ihr totes Kälblein ist grenzenlos.
„Die Hirschkuh muss verstehen lernen, dass ihr Kind tot ist. Immer wieder kehrt die Hirschkuh zum Ort des Geschehens zurück und ruft nach ihm, selbst wenn die Jäger das Kalb schon längst abtransportiert haben.“
Peter Wohlleben im Buch: „Das Seelenleben der Tiere“.
Wenn eine Hirschkuh ihr Kalb verliert, dann herrscht zuerst ungläubige Verwirrung. Dann setzt Trauer ein. Trauer? Können Hirsche so etwas überhaupt empfinden? Ja, schreibt der studierte Forstwirt Peter Wohlleben in seinem Buch, in dem er das Seelenleben der Tiere beschreibt. Hirsche müssen sogar trauern. Die Trauer hilft ihnen, Abschied zu nehmen. Wissenschaftliche Beobachtungen haben ergeben, dass die Bindung der Hirschkuh zum Kalb so intensiv ist, dass sie nicht von einer Sekunde zur andern aufgelöst werden kann. Die Hirschkuh müsse erst langsam verstehen lernen, dass ihr Kind nun tot sei, und dass sie sich nun von dem kleinen Leichnam lösen müsse, berichtet der Autor. Und er weiss: Immer wieder kehrt die Hirschkuh zum Ort des Geschehens zurück und ruft nach ihm, selbst wenn die Jäger das Kalb schon längst abtransportiert haben.
„Trauernde Hirschkühe gefährden ihre Sippe.“
Peter Wohlleben
Nachdem die Jäger eines oder mehrere Tiere geschossen haben, stürzen sie ein Hirschrudel in blanke Verzweiflung. Trauernde Hirschkühe gefährden ihre Sippe, denn sie bleiben in der Nähe, wo ihr Kind zu Tode kam, und damit bleiben sie auch in der Nähe der Gefahr. Problematisch wird das Zusammenleben mit einer trauernden Hirschkuh, die gleichzeitig die Anführerin des Rudels war, also das erfahrene „Alttier“. Eigentlich müsste sie das Rudel wegführen aus der Gefahrenzone. Doch leider ist sie dazu nicht mehr imstande, denn die noch nicht endgültig gelöste Beziehung zum Nachwuchs verhindert dies. Im Hirschrudel muss eine solche Hirschkuh ihre Führungsrolle abgeben. Es steigt nun eine andere erfahrene Hirschkuh zur Anführerin auf. Das Leben muss weitergehen. Bis zur nächsten Hochjagd.
Manchmal ist ein Einblick in eine verborgene Welt heilsam. Forstwart Peter Wohlleben gewährt uns erstaunliche Einblicke in das Seelenleben der Tiere. Er schöpft aus jahrzehntelanger Erfahrung als Förster und kann sich dabei auch auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. Es sind dies Beobachtungen und Erlebnisse, die jede und jeder von uns im Umgang mit Tieren ebenfalls machen kann. Die Gefühlswelt von Hirsch und Pferd, aber auch von Hase und Maus ist viel reicher als wir uns vorstellen können.
„Es gibt sogar Krähen, die mit sichtlicher Freude die Dächer unserer Häuser als Rutschbahn benutzen.“
Peter Wohlleben
Tiere fühlen mit ihren Artgenossen, sie führen ein soziales Leben und in den Tierleben wird auch geliebt, getrauert und Spass gemacht. Auch unsere Haus- und Nutztiere verfügen über ein grosses emotionales Bewusstsein. So kann etwa unsere Pferdestute „Fibi“ sich ganz verschämt abwenden, wenn sie sich daneben benommen hat. Und der Hahn auf dem benachbarten Bauernhof kann seine Hühner ganz schön fies austricksen, wenn er Lust verspürt, sie zu besteigen. Es gibt Bücher, die sind voller Aha-Erlebnisse. Nach der Lektüre von Wohllebens Buch „Das Seelenleben der Tiere“ wird wohl manche und mancher die Tiere in Feld, Wald und Flur, in Haus und Hof, und besonders auch auf der Jagd mit ganz neuen Augen betrachten.
Text, Bilder und Radiosendung: Kurt Schnidrig