Als heute die Nobelpreisträgerin für Literatur bekanntgegeben wurde, da dachte ich mir: „Glück gehabt!“, denn auch für promovierte Germanisten waren die Preisträger der vergangenen Jahre nicht selten ein Buch mit sieben Siegeln. Nobelpreisträgerin ist die US-amerikanische Dichterin Louise Glück. Mein persönliches Glück besteht nun darin, dass ich mich während meines Studiums eingehend mit Rainer Maria Rilke befasst habe. Und Rilke hat mit seiner Naturlyrik, mit seinen Rosengedichten und mit seinem Symbolismus einen grossen literarischen Einfluss auf Louise Glück ausgeübt.
Von Rilkes Naturlyrik beeinflusst, sind Blumen und insbesondere Rosen der Schauplatz in vielen ihrer Gedichte. Beeinflussen liess sich Louise Glück auch von Rilkes Symbolismus. Was alles kann eine Rose bei Rilke bedeuten? Rote Rosen sind ein Zeichen der Liebe, Rosen stehen aber auch für den Tod und für das Vergehen. „Rose, o reiner Widerspruch, Lust niemandes Schlaf zu sein…“, so steht’s geschrieben auf Rilkes Grabstein auf dem Burghügel in Raron. Louise Glück, die Nobelpreisträgerin für Literatur 2020, übernimmt den Rosen- und Blumen-Symbolismus von Rilke und geht in ihrer Poesie noch einen Schritt weiter. So finden die Gedichte in „The Wild Iris“ in einem Garten statt, in dem Blumen intelligente, emotionale Stimmen haben. In der Gedichtsammlung „Ararat“ verleiht die Dichterin den Blumen eine Sprache der Trauer. Blumen dienen dem Gedenken an Mitmenschen, die man geliebt und verloren hat. In Louise Glücks Poesie hat auch das Göttliche seinen Platz, auch dieses – wie bei Rilke – in symbolischer Bedeutung. In „The Wild Iris“ spricht die Göttlichkeit durch Wetteränderungen.
Das Trauma als Kategorie der Psychoanalyse ist grundgelegt in Glücks Poesie. Konstanten in Louise Glücks Poesie sind die grossen und ewigen Themen des menschlichen Lebens. Sie schreibt über Tod, Verlust, Ablehnung und das Scheitern von Beziehungen. Selbst dann, wenn sie glückliche oder optimistisch stimmende Bilder verwendet, schwingt in einem Unterton immer auch das Bewusstsein für die Sterblichkeit und für den Verlust der Unschuld mit.
Louise Glück, 1943 geboren, ist deutscher Abstammung, ihre Vorfahren stammen aus Berlin. In den USA wurde sie bereits mit vielen bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Der renommierte „Pulitzer Prize“ war bis anhin wohl die Krönung ihres literarischen Schaffens. Louise Glück verfasst nicht nur selber Gedichte, sie lehrt als Professorin die Dichtkunst und die Poesie an der Yale University. Heute lebt sie in Cambridge und in Massachusetts.
Fast 200 Kandidat*innen waren in diesem Jahr im Rennen für den prestigeträchtigsten Literaturpreis. Der Nobelpreis für Literatur ist mit rund einer Million Franken besonders hoch dotiert. An potenziellen Preisträger*innen hat es also nicht gefehlt. Da wäre auch noch Margaret Atwood gewesen, die viele ganz zuoberst auf der Wunschliste für den Nobelpreis gehabt hatten. Viele hatten auf sie gewettet. Atwood propagiert Frauenfiguren, die sich für ein weibliches Leben in einem patriarchalischen Staat einsetzen. Viele tippten auf Thomas Pynchon, einen der Innovatoren für Prosa und Erzählung im letzten Jahrhundert. Auch Deutschland hätte mit Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser zwei Eminenzen der Literatur als „heisse Eisen“ für den Nobelpreis im Feuer gehabt. Einen Nobelpreis verdient hätte bestimmt auch der Somalier Nuruddin Farah, der Chronist des Bürgerkriegs. Oder die brillante Schriftstellerin Jamaica Kincaid von der Karibik-Insel Antigua. Oder, oder…
Mit „Glück“ und ohne Skandal verlief die Nominierung der Preisträgerin 2020. Nachdem im Jahr 2017 ein Sex-Skandal, verursacht durch Jean-Claude Arnault, dem Ehemann des Jury-Mitglieds Katarina Frostenson, aufgeflogen war, konnte im Jahr 2018 zuerst kein Nobelpreis für Literatur vergeben werden. Zudem hatte Arnault die Preisträger schon vor der Preisverleihung ausgeplaudert und damit gegen die Geheimhaltungspflicht verstossen. Im Jahr 2019 hatte die Schwedische Akademie demzufolge gleich zwei Nobelpreise für Literatur zu vergeben – und tappte erneut ins Fettnäpfchen. Die Nominierung des Österreichers Peter Handke war ein Politikum und heiss umstritten. Handke hatte im Jugoslawien-Konflikt sich stark mit den Serben solidarisiert und die von den Serben begangenen Kriegsverbrechen bagatellisiert oder gar geleugnet. Zudem hatte er bei der Beerdigung des gestürzten serbischen Führers Slobodan Milosevic sogar eine Rede gehalten.
„Endlich mal eine Dichterin!“, ist man versucht auszurufen. Poesie und Lyrik wurden in den vergangenen Jahren vom Roman zurückgedrängt. Nicht selten sahen sich Lyriker*innen gezwungen, einen Roman zu schreiben, um sich damit für einen Literaturpreis empfehlen zu können. Viele Verlage haben Poesie und Lyrik gar ganz aus ihrem Programm gestrichen, weil sich Gedichte anscheinend schlecht verkaufen lassen. 117 Nobelpreise für Literatur wurden bisher insgesamt vergeben, davon bloss 16 an Frauen. Auch deshalb gilt: „Endlich mal eine Dichterin!“
Text und Bild: Kurt Schnidrig
(Dieser Kommentar wurde – eine Stunde nach der offiziellen Bekanntgabe der Preisträgerin – im Rahmen der Sendung „Literaturwelle“ von rro ausgestrahlt. Den Podcast dazu hören Sie in Kürze an dieser Stelle.)