Er ist Jesuit und autorisierter Zen-Meister. Im Rahmen der Veranstaltung „Zeitzeichen – Bildungsimpulse aus Gondo“ bezog er das Publikum aktiv in seine Ausführungen ein und machte das Thema „Zeit“ erlebbar. Im Hintergrund zugeschaltet waren der Rektor der Fernfachhochschule Schweiz, Michael Zurwerra, und ich als der Moderator des Anlasses. Die starken Niederschläge hatten dazu geführt, dass ein Murgang am Simplon eine Strassensperrung nach sich zog. Alle waren wir ein- oder ausgeschlossen. So wurde denn die Veranstaltung mit den Referenten und einigen, sich bereits vor Ort befindenden Bildungsexpert*innen, im Stockalperturm in Gondo durchgeführt.
Zen-Meister Niklaus Brantschen machte für das Publikum in Gondo das Thema „Zeit“ erlebbar. Alles, was wir tun, hat mit ihr zu tun. Auch dann, wenn wir nichts tun, ist sie auch da, denn die Zeit lasse sich weder vertreiben noch totschlagen, führte Niklaus Brantschen aus. Die Zeit umgibt und durchdringt uns wie die Luft, die wir atmen, und doch ist die Zeit ausser Reichweite. Sie ist überall und nirgends. Die Zeit lasse sich leicht messen, aber kaum begreifen, gab Brantschen zu bedenken. „Was also ist Zeit?“, fragte der Zen-Meister in die Runde.
Die Zeit-Misere begann von dreihundert Jahren. Blenden wir zurück. Begonnen hat die Zeit-Misere bereits im 18. Jahrhundert. Im Jahr 1748 gab der amerikanische Drucker, Verleger, Schriftsteller, Naturwissenschafter, Erfinder und Staatsmann Benjamin Franklin einem jungen Geschäftsmann den Rat: Merke dir gut (remember), Zeit ist Geld (time is money). Damit kam es zu einer unheilvollen Gleichsetzung von Zeit und Geld. Der Faktor Zeit wurde zu einem kostbaren Rohstoff, mit dem sich wirtschaften lässt. Das Arbeitstempo nahm rasant Fahrt auf. Ein menschengerechter Arbeitsrhythmus wurde durch Akkordarbeit ersetzt.
„Wie kann ich in einer Zeit, da wir selbst die Nase mit „Tempo“-Taschentüchern putzen, genug Zeit finden?“
Niklaus Brantschen
Karl Marx war es, der dann diese unselige Entwicklung auf den Punkt gebracht hatte. Sein fataler Spruch ging um die Welt: „Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts.“ Seither stellen sich Fragen wie: Wie kann ich dem Druck der Zeit entkommen? Wie kann ich mich vor dem Ausbrennen schützen? Wie kann ich mir rechtzeitig eine Aus-Zeit nehmen? Zen-Meister Niklaus Brantschen weiss Antworten auf diese Fragen. Er schöpft aus der Philosophie des Buddhismus. Und er hat in seinen Büchern festgehalten, was ihm wichtig erscheint. Zuletzt in: „Zwischen den Welten daheim: Brückenbauer zwischen Zen und Christentum“, Patmos Verlag). Geprägt haben ihn aber auch die Erfahrungen aus einem ungewöhnlichen und äusserst bereichernden Leben.
Niklaus Brantschen ist 1937 in Randa geboren. Er wuchs mit sechs Geschwistern in einer traditionell katholischen Familie auf. Als geübter Bergsteiger hat er viele der höchsten Berge erklommen. 22-jährig trat er in den Jesuitenorden ein. 1964 erlangte er das Lizentiat der Hochschule für Philosophie München. Nach einem pädagogischen Praktikum arbeitete er als Erzieher im Jesuitenkolleg in Feldkirch/Österreich. Danach entschloss er sich zu einem Theologiestudium an der Universität in Fourvière/Lyon in Frankreich. Seine Lizentiatsarbeit verfasste er über Dietrich Bonhoeffer. 1970 feierte Niklaus Brantschen die Primiz in Randa. Danach widmete er sich dem Diplomstudium in Erwachsenenbildung in München.
Ein Pionier der ersten Stunde. In den späten 1970er Jahren unternahm Brantschen regelmässig Lehraufenthalte und absolvierte Zen-Studien in Kamakura/Japan. Im Jahr 1988 wurde ihm die Lehrbefugnis in Zen vom grossartigen Zen-Meister Yamada Koun Roshi erteilt. Dieser hatte in Kamakura während Jahrzehnten stress- und zeitgeplagte Menschen auf den Zen-Weg geführt. Yamada Roshi vertrat in seiner Lehre die Meinung, dass Zen kein System von Sätzen, Begriffen und Übungen sei, das unter Ausschluss aller anderen spirituellen Wege befolgt werden müsste. Bei Yamada Koun Roshi konnte Niklaus Brantschen alle Koân, inklusive der Fünf Grade, der Drei Schätze und der Zehn Grossen Gebote lösen.
Ein Plädoyer für den interreligiösen Dialog. „Es gibt keine Alternative zum interreligiösen Dialog“, ist Niklaus Brantschen überzeugt. Mit dem „interreligiösen Dialog“ ist nicht nur das Gespräch gemeint, sondern sind auch die positiven und konstruktiven Beziehungen zwischen Personen und Gemeinschaften anderer Religionen zur gegenseitigen Bereicherung mit eingeschlossen.
„Heute religiös zu sein heisst interreligiös zu sein, nicht nur bilateral, sondern multilateral.“
Niklaus Brantschen in seiner Autobiographie „Auf dem Weg des Zen: Als Christ Buddhist“.
Den Dialog mit dem Buddhismus empfindet Niklaus Brantschen als äusserst „bereichernd“. Das sei ein „nicht gerader oder abgeschlossener Weg zwischen Ost und West“. Ein Weg, der im Spannungsfeld zwischen echter Zen-Erfahrung und Christusnachfolge entstehe. In der Praxis des Zen sieht er einen Weg zum Abbau von Schranken zwischen Religionen, Rassen und Nationen.
„Die Menschheit ist wie ein Vogel mit den beiden Flügeln wie Mann und Frau. Wenn ein Flügel nicht gleich entwickelt ist, haben wir einen schrägen Vogel, der nicht vom Fleck kommt.“
Niklaus Brantschen
Die Partnerschaft von Mann und Frau erachtet Niklaus Brantschen als wichtigen Beitrag für einen notwendigen planetaren Bewusstseinswandel. Wirklich Neues könne nur entstehen, wenn Mann und Frau eine Kultur der Partnerschaft unter Gleichberechtigung pflegen, ist er überzeugt.
Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig