Ein Blick auf ein schweizerisches Online-Portal am 28. Januar 2021: „Totalversagen kostet 20 Menschenleben“, „Sportferien werden zur Zitterpartie“, „China testet per Anal-Abstrich“, „Mehr Fälle von Kindsmisshandlung“, „Abfahrer prallt in Pistenarbeiter“, „Der Sultan von Brunei regiert mit Protz und Peitschen“, „Wir sollten unseren Sohn aufhängen“, „Polizei-Einsatz wegen Mini-Vibratoren“, „Pamela Anderson hat zum sechsten Mal geheiratet“… wird Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, bei derartigen Lektüren auch zuweilen schwindlig? Was machen derartige „Meldungen“ mit uns, mit dem Publikum? Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, hat darüber ein Buch geschrieben. Das Buch trägt den Titel „Die grosse Gereiztheit“. (Bernhard Pörksen: Die grosse Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Carl Hanser Verlag, München, 256 Seiten.)
Wir sind gereizt. Im Zuge der Vernetzung und des weltweiten Einsatzes von digitalen Medien verschmilzt alles mit allem: Die Information und die Emotion, das Reale und das Simulierte, die Kopie und das Original, das Hier und Dort, die Gegenwart und die Vergangenheit. Es sind keine getrennten Informationssphären für Junge und Alte mehr festzustellen, alle bekommen potenziell alles mit. Der Bewusstseinsstrom anderer Menschen erreicht uns mit nie gekannter Direktheit. Wir sind ungefiltert der Geistesverfassung der gesamten Menschheit ausgesetzt. Wir müssen die irrlichternden Tweets eines US-Präsidenten genauso lesen wie die „Studien“ zur aktuellen Pandemie, die in den allermeisten Fällen jeglicher Wissenschaftlichkeit entbehren. Wir werden mit „Häresien“ und kaum durchdachten „Erkenntnissen“ von irgendwelchen Virologen und Epidemiologen in Schockstarre versetzt, ohne dass sich heutiger Journalismus auch nur einen Deut um eine gesicherte Quellenlage schert. Ethik im Journalismus? Das war früher einmal, als Journalismus noch auf der Universität gelehrt wurde.
„Das Geschehen auf dem Planeten erscheint heute als eine Hitliste des Merkwürdigen, Bizarren, Aufregenden.“
Aus: „Die grosse Gereiztheit“ von Bernhard Pörksen
Online-Medien als „grosser Verzerrer“. Medientheoretiker Pörksen wirft vielen Online-Beiträgen im Internet vor, dass sie alle Filter und Formen, die für das Private und Politische notwendig und wichtig sind, auflösen. Da werde „das Unterste nach oben“ gespült. Einem Politiker sitzt die Hose schief, eine Schauspielerin riskiert einen Busenblitzer – das Netz schaut zu und hält Gericht. Ist es lediglich ein Vorurteil, dass eine Vielzahl heutiger Journalisten ihrem Publikum permanent im Modus der Herablassung begegnen? Mediale Kommunikation will heute kaum jemand im Interesse journalistischer Qualität begrenzen. Dazu kommt die unsägliche Flut von Leserbriefen von Wutbürgern, von Redaktionen nicht selten als das „Salz in der Suppe“ gepriesen, die jedoch mit ihrer einseitigen und provokativen Meinungsäusserung und mit ihren Attacken – häufig auf die Person statt auf die Sache – die Mediensuppe „versalzen“ und zur allgemeinen Gereiztheit des Lesepublikums beitragen.
„Die grosse Gereiztheit“ – diesen Begriff hat der Medientheoretiker und Universitätsprofessor Bernhard Pörksen aus Thomas Manns „Zauberberg“ entlehnt. Im „Zauberberg“ trägt ein Kapitel ebenfalls den Titel „Die grosse Gereiztheit“. Darin beschreibt Thomas Mann eine krankhaft nervöse Gesellschaft. Die Ursache für die Nervosität und für die Gereiztheit der damaligen Gesellschaft verortet Thomas Mann primär bei der Verkabelung des Globus. Was damals begonnen hat, ist heute irreversibler Fakt: Die elektrische Umwelt. Alle werden wir in einen „Weltbewusstseinsstrom“ hineingezogen. Es ist uns nicht mehr möglich, Diversifizierungen, Zuordnungen und Zuschreibungen vorzunehmen. Mehr noch. Wir werden vom mehr oder weniger wichtigen Weltgeschehen nicht nur pausenlos bedrängt, sondern auch in einer diffusen und anklagenden Weise verantwortlich gemacht. Was bleibt dem geplagten Konsumenten an Schutzmassnahmen übrig? Der Rückzug in eine Filterblase? Sich offline zurückziehen auf eine einsame Insel? Abschottung und der Rückzug ins Persönliche sind durchaus praktikable Massnahmen, sie ähneln jedoch einer Vogelstrauss-Politik. Den Kopf in den Sand stecken kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein.
Die Utopie einer „redaktionellen Gesellschaft“. Pörksen ermutigt uns zu mehr eigenem Engagement. Sein Lösungsvorschlag ist die konkrete Utopie einer redaktionellen Gesellschaft. Weil die Online-Medien häufig die Unterteilung zwischen Experten, Journalisten und Laien nicht treffen, so sein Vorschlag, soll Journalismus zur allgemeinen Lebensform werden. Journalistische Prinzipien wie generalisierte Skepsis und Wahrheitssuche sollen von jeder und von jedem von uns verinnerlicht und praktiziert werden. Dafür müssen – nach Pörksen – künftig die Schulen herhalten.
Journalismus als Schulfach. Von Schutzprogrammen im Netz hält Pörksen wenig. Im Gegenteil. Ganz im Sinn des deutschen Historikers und Politikers Nils Minkmar glaubt er, dass es „kein Recht auf ein von der Geschichte unbelästigtes Leben“ gebe. Deshalb die Forderung nach einer „redaktionellen Gesellschaft“. Aus dieser werde „die grosse Gereiztheit“ verschwinden, weil „die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus“ gelten. Dieser neue Journalismus müsse nicht zuletzt per neuem Schulfach „zum Bestandteil der Allgemeinbildung und zum selbstverständlichen Ethos“ werden. Angesichts der „grossen Gereiztheit“ müssen der Einzelne und die Gesellschaft eine Emotions- und Erregungsdidaktik erfinden. Diese neue Didaktik soll auf folgenden Leitfragen basieren: Was müssen wir wissen? Was ist wirklich wichtig? Und: Wie verknüpft man Aufregung mit Relevanz?
Text und Bild: Kurt Schnidrig