„Faust – Der Tragödie erster Teil“. Ostermorgen. Vor den Toren der Stadt. Wer kennt sie nicht, die Szene 2 aus Faust I von Johann Wolfgang von Goethe? Der Osterspaziergang ist Inbegriff des Auferstehungs-Glaubens und der österlichen Freude. Nicht weniger als vier Epochen spiegeln sich in Goethes „Faust“. Je nach Gegenstand der Betrachtung lassen sich Merkmale der Aufklärung (ca. 1720-1800), des Sturm und Drang (ca. 1767-1785), der Weimarer Klassik (ca. 1794-1805) und der Romantik (ca. 1795-1848) erkennen. 60 Jahre lang arbeitete der Dichterfürst Goethe am Faust-Stoff. Goethes „Faust“ entstand zwischen 1770 und 1832. Kein anderes literarisches Werk hat unsere Vorstellung vom Osterfest derart geprägt und ausgedeutet.
In der Tragödie erster Teil (Faust I) strebt der Wissenschaftler Heinrich Faust nach Wissen in all seinen Erscheinungsformen. Er ist aber unfähig, das Leben zu geniessen. Bitter beklagt sich Doktor Faust über sein freudloses und wenig befriedigendes Leben. So entscheidet sich Faust zum letzten Schritt. Er will sich das Leben nehmen. Davon wird er im allerletzten Augenblick abgehalten. Als er die Phiole mit dem Gift bereits an seine Lippen setzt, ertönen die Glocken der Osternacht. Am Ostermorgen sind alle Menschen glücklich, auch Faust. Doktor Faust und sein Schüler Wagner begeben sich auf einen Osterspaziergang . Die Szene spielt vor den Toren der Stadt. Faust versucht Wagner zu erklären, weshalb er sich so zum Himmel und zum Lustvollen hingezogen fühlt.
Leseprobe. Spaziergang am Ostermorgen. Vor den Toren der Stadt. Die Orthographie und die Interpunktion sind im nachfolgenden Text-Ausschnitt leicht modifiziert.
F a u s t. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche. Durch des Frühlings holden, belebenden Blick; Im Tale grünet Hoffnungsglück; Der alte Winter, in seiner Schwäche, zog sich in die rauen Berge zurück. Von dorther sendet er, fliehend, nur ohnmächtige Schauer körnigen Eises in Streifen über die grünende Flur; Aber die Sonne duldet kein Weisses. Überall regt sich Bildung und Streben, alles will sie mit Farben beleben; doch an Blumen fehlt’s im Revier, sie nimmt geputzte Menschen dafür. Kehre dich um, von diesen Höhen nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen, finstern Tor dringt ein buntes Gewimmel hervor. Jeder sonnt sich heute so gern. Sie feiern die Auferstehung des Herrn; denn sie sind selber auferstanden, aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, aus Handwerks- und Gewerbesbanden, aus dem Druck von Giebeln und Dächern, aus der Strassen quetschender Enge, aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht sind sie alle ans Licht gebracht. Sieh nur, sieh! Wie behend sich die Menge durch die Gärten und Felder zerschlägt, wie der Fluss in Breit und Länge so manchen lustigen Nachen bewegt, und bis zum Sinken überladen entfernt sich der letzte Kahn. Selbst von des Berges fernen Pfaden blinken uns farbige Kleider an. Ich höre schon des Dorfs Getümmel. Hier ist des Volkes wahrer Himmel, zufrieden jauchzet gross und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“
Allen meinen Leser*innen wünsche ich von Herzen ein frohes Osterfest.
Text und Foto: Kurt Schnidrig