Professorin Sabine Haupt, geboren 1959 in Giessen, lebt seit 1980 am Genfersee. Sie ist Professorin für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg. Neben wissenschaftlichen Arbeiten publiziert sie auch für Presse, Rundfunk und Fernsehen. Sie ist im Vorstand des Deutschschweizer PEN-Zentrums und des dreisprachigen Literatur- und Übersetzungsfestivals „Bieler Gespräche“. Bereits hat sie zwei Erzählbände veröffentlicht sowie zahlreiche Prosatexte in Literatur- und Kulturmagazinen. Vor drei Jahren erschien ihr erster Roman „Der blaue Faden. Pariser Dunkelziffern“. Nun wartet sie mit einem philosophischen Liebeskrimi auf, den der Verlag auch als „intellektuellen Frauenroman“ bezeichnet. Der Schauplatz für „Lichtschaden. Zement“ ist das Oberwallis und insbesondere das Goms.
Raffaele und Hella sind die Protagonisten der intellektuellen Romanstory. Es sind dies zwei unterschiedliche Charaktere, die über Liebe, Erotik und Sex zueinander gefunden haben. Beide haben eine schwierige Vergangenheit zu verarbeiten, beide stammen aus Familien, die einem belasteten Umfeld entstammen. Raffaele, ein ehemaliger Mann der Kirche, hat mit belastenden Bildern zu kämpfen, mit Flashbacks, die es ihm verunmöglichen, die Werte der katholischen Kirche weiterhin zu leben. Nach jahrelanger Abstinenz holt er nun in Liebe und Sex nach, was ihm das Zölibat bisher untersagt hat. Als der Priester Raffaele in der Osternacht in seiner neuen Gemeinde die erste Predigt zum Thema Auferstehung halten soll, durchzucken ihn Bilder aus früher Zeit wie Blitze. Er widersteht dem Drang, von der Kanzel zu springen und wechselt stattdessen den Beruf. Er tritt einen neuen Job an in der Zement-Industrie, die Niederlassungen besitzt im bündnerischen Unterschlans, zwischen Andermatt und Chur gelegen. Hella ist Hotelmanagerin und schwört auf eine Zement-Therapie, die sie auch ihrem Liebhaber Raffaele angedeihen lassen möchte. Auf der Suche nach einer Verbindung von Liebe und Religion steht Raffaeles „rachsüchtiger Gott“ Hellas ausufernden Gesprächen über die Liebe gegenüber. Sexuelle Hysterie überkommt ihn. Was einmal Geist war, wird nun zu Fleisch.
„Wenn wir uns lieben, geht es uns nicht bloss um die Lust. Wir wollen uns erreichen. Erst wenn ich in dich eindringe, bin ich dir wirklich nah. Erst dann erfahre ich deine Seele in voller Tiefe.“
Aus: „Lichtschaden. Zement“, Seite 17
In Gluringen im Goms steht das Haus der Kindheit. Aus Norditalien kommend, hatte sich Raffaeles Vater hier niedergelassen. Zusammen mit seinem Bruder Angelo verbrachte Raffaele hier eine Kindheit, die von unheimlichen Ereignissen geprägt war. Angelo hält sich und seinen Bruder Raffaele für „gefallene Engel“, er möchte die „Drähte kappen“ zu den Dämonen, die ihn, seinen Bruder und die ganze Familie bedrängen. Als die dämönischen Gedanken in Übergriffen auf seinen Bruder Raffaele gipfeln, wird Angelo in das Psychiatriezentrum Brig eingeliefert. Trotz dieser unheimlichen Kindheit im Oberwallis erstrahlt das Goms im Roman immer wieder in einem wundervollen Licht und animiert zum Liebesspiel. Am schönsten erscheint den Liebenden das Wallis in der Dämmerung.
Und wenn die Nacht kommt, zeichnen die Hochalpen ihre schroffen Konturen hinein, Gipfel und Felsköpfe wie Tierköpfe, Fratzen, monströse Leiber, an deren Flanken die spärlich erleuchteten Dörfer wie dünne Girlanden hängen, ärmlicher Christbaumschmuck, verloren in der Finsternis der nächtlichen Felsen. „Zieh‘ mich aus“, sagte sie, „ich möchte, dass wir uns nackt an diesen Berghang schmiegen, als wäre unsere Haut seine Wiese, sein Fell.“
Aus: „Lichtschaden. Zement“, Seite 123
Etwas Unheimliches verströmt jedoch das zweistöckige Bauernhaus aus geschwärztem Lärchenholz in Gluringen. Als Kind schreckten Raffaele nächtliche Schreie aus dem Schlaf. War es der Vater, der sie ausstiess? Welches Geheimnis trug Vater ein Leben lang mit sich herum? Und weshalb verschwand die Mutter plötzlich aus dem Leben der Familie? Was in der ersten Hälfte des Romans noch an sagen- und märchenhaft verbrämte kindliche Ängste erinnert, erhält im zweiten Teil des Romans eine gesicherte historische Grundlage, die auf unfassbar gewalttätigen Tatsachen und Fakten aus der kriegerischen Vergangenheit der Nazi-Zeit fussen. Als Hella eines Tages das „Gelbe Heft“ in die Hände fällt, Raffaels Notizbuch, scheint sich das Geheimnis zu lüften, das Raffaeles Vater in sich verschlossen hatte. Inzwischen hat jedoch Hella, die tüchtige Hotelmanagerin, ihren Traum von einer Zement-Therapie im Spa-Bereich ihres Hotels im Obergoms verwirklicht. Ihre „Osteopathische Caemento-Fibrillation“ ähnelt einer Wellness-Packung, die auch ihren Liebhaber Raffaele therapieren soll.
„Hella behauptet, Zement sei besser als Sex. Für meinen Rücken und gegen Panik. Bei ihr weiss man nie, ob solche Vorschläge ernst gemeint sind. Jedenfalls ist sie wie besessen von der neuen Therapie. Ich finde: Sex ist genau das Richtige für mich. Jahrelang habe ich wie im Koma gelebt, solange bis alles verknöchert und voller Angst war. Hellas erfahrener Körper hat mich davon befreit.“
Aus: „Lichtschaden. Zement“, Seite 163
Ob es Hella gelingt, ihren Liebhaber Raffaele mit ihrer Zement-Therapie zu heilen? Ob sich die Dämonen aus dem Kopf der beiden Brüder Raffaele und Angelo verabschieden? Und was ist mit den unglaublichen Plänen, welche die Zement-Mafia im Mittelmeer realisieren möchte? Der philosophische Liebeskrimi sprengt schliesslich alle Lese-Erwartungen und bricht zu globalen Ufern auf.
Ein intellektueller Frauenroman? Als solchen preist der Verlag das Buch an. Als männlicher Leser fühlt man sich jedoch ebenso angesprochen und die Männer sind gefordert: „Vielleicht kannst du als Mann mir das erklären: Wie kann es sein, dass sich alle gegenseitig hassen und dann doch zusammenhalten, wenn es darum geht, eine Frau aus dem Rennen zu werfen? (…) Die Herren halten sich für grandios, sehen aber keine Notwendigkeit, diese Hypothese zu verifizieren. Sie sind Experten für alles und jedes, haben zu jedem Problem etwas zu sagen, von der Berechnung des Urknalls bis zur Masturbation der Stachelschweine.“ (Aus: „Lichtschaden. Zement“, Seite 133).
Ein grossartiger Roman, der mit seiner motivischen Dichte beeindruckt. Die Autorin versteht sich brillant darauf, die Gegensätze zwischen Geist und Materie, Licht und Dunkel, Vernunft und Wahnsinn, materieller Gier und sexueller Begierde hoch spannend aufzuzeigen und aus verschiedenen personalen Erzählperspektiven zu analysieren und stimmig darzulegen.
Text und Radiosendung: Kurt Schnidrig. Porträt-Foto von der Autorin für diesen Blog-Beitrag zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank.