„Blaue Frau“ – der Roman von Antje Ravik Strubel wurde als „das beste deutschsprachige Buch“ ausgezeichnet. Der Titel des Buchs macht hellhörig. Wer ist diese mysteriöse blaue Frau? Die blaue Frau ist eine Frau ohne Namen, eine Frau, die immer wieder an allen möglichen Schauplätzen auftaucht. Die Gestalt der blauen Frau überstrahlt alles, sie steht über allem und sie stellt unbequeme Fragen. Sie stellt irritierende und aufrüttelnde Fragen an uns Leser*innen, aber auch an die Autorin, an die Verfasserin des Romans. Gemäss der gängigen Erzähltheorie liesse sich die blaue Frau als das Erzähler-Ich umschreiben. Als Erzähler-Ich stellt die blaue Frau aufrüttelnde Fragen rund ums Frau-Sein von heute.
„Auf den Felsen am Ufer, jenseits der Birken, am Ende der Bucht, erscheint die blaue Frau. Sie ist so deutlich, dass ihre Gestalt alles überstrahlt. (…) Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten.“
Aus: „Die blaue Frau“ von Antje Ravik Strubel
Die Protagonistin heisst Adina, und sie will Gerechtigkeit. Adina fühlt sich gefangen im eigenen Körper. Sie fühlt sich gefangen wie in einem Gefängnis. Adina fühlt sich gefangen, weil sie irgendwo „im Schwabenland“ betäubt und brutal vergewaltigt worden ist. Nach dem furchtbaren Erlebnis ist Adina nach Helsinki geflüchtet, in die finnische Hauptstadt, die sich besonders für die Menschenrechte stark macht. In Helsinki will Adina die Männer anklagen, die sie vergewaltigt und gefoltert haben. Adina träumt jedoch nicht bloss von Gerechtigkeit, sie möchte sich auch rächen. Adina wünscht sich, dass die Männer, die ihr das angetan haben, von den Richtern in Helsinki zum Tode verurteilt werden.
„Und die Männer werden ahnen, wen sie vor sich haben. Ihre Hände in den Handschellen werden anfangen zu zittern. Und die Geschworenen erheben sich. Der Saal wird verstummen, wenn die Geschworenen rufen: Welche sollen wir töten? (…) Und sie wird sagen: alle.“
Aus: „Die blaue Frau“ von Antje Ravik Strubel
„Me Too“ in Finnland? Nein, diese Geschichte ist nicht eine der vielen Me-Too-Geschichten, die in Hollywood ihren Anfang nahmen und um die Welt gegangen sind. Nein, Adina denkt nicht in „Me Too“-Kategorien. Die androgyne junge Frau möchte eigentlich nur eins: Sie möchte sich selbst wiederfinden. Deshalb schaut sie auch immer wieder zurück, zurück auf den Menschen, der sie früher einmal gewesen war. Immer wieder überkommen Adina sogenannte „Flashbacks“, Rückblenden, die sie zurückführen in die Zeit, als sie noch ein Teenager gewesen war, ein Teenie voller Sehnsucht nach Freiheit im Herzen. Adina sucht nach sich selbst, zuerst im virtuellen Chatroom. Dann aber unternimmt sie eine Busreise nach Berlin. In Berlin findet Adina eine Kollegin, sie heisst Rickie und ist Fotografin. Rickie ist ihr behilflich und besorgt ihr einen Job.
„Rickie war in der Lage, hinter der Aufhängung ihres Gesichts, hinter Haut, Knochen und Schädel den letzten Mohikaner zum Vorschein zu bringen.“
Aus: „Die blaue Frau“ von Antje Ravik Strubel
Der Weg zum eigenen Ich ist ein beschwerlicher Weg. Adina verliebt sich in einen finnischen Professor, der zudem auch noch Abgesandter ist im Europa-Parlament in Brüssel. Hilft dies alles Adina? Findet Adina schlussendlich zu sich selbst? Findet Adina heraus aus ihrem Körpergefängnis? Der Roman hat ein unerwartetes Ende. Schliesslich steht der vieldeutige Satz im Raum: „Sie hatte gelernt, sich zu wehren“.
Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig