Versuch eines literarischen Brückenschlags zwischen Ober- und Unterwallis

„In den letzten Jahren wurden es immer weniger Deutschwalliser Autoren, die im Cahier des Walliser Schriftstellerverbands veröffentlichen“, bedauert Jolanda Brigger-Ruppen.

Im „Le Cahier“ des Walliser Schriftstellerverbands veröffentlichen jährlich Walliser Autorinnen und Autoren Kurztexte, als Prosa und auch als Lyrik. Mit Jolanda Brigger-Ruppen publiziert im „Cahier 2021“ gerade mal eine einzige Oberwalliser Autorin im „Cahier“ rein deutschsprachige Texte. Unter dem Pseudonym Michael Courtier schreibt zwar auch noch ein Deutschwalliser, er tut dies aber zweisprachig, indem auf ein paar deutschsprachige Zeilen eine freie Übersetzung in französischer Sprache folgt. „Es waren auch immer Deutschwalliser Autoren im Cahier vertreten“, sagt Jolanda Brigger-Ruppen auf Nachfrage, „aber in den letzten Jahren wurden es immer weniger; letztes Jahr waren zwar fünf dabei, die vorherigen Jahre eher weniger, und dieses Jahr nur noch ich.“ Den Grund dafür kenne sie nicht, fügt Jolanda Brigger-Ruppen an. Auch welche Kriterien für eine Veröffentlichung gelten, das wisse niemand so genau. Sie selbst weiss keine Antwort auf die Frage, weshalb Dutzende von Unterwalliser Autorinnen und Autoren im jährlichen „Cahier“ vertreten sind, die Oberwalliser Autorenschaft jedoch aussen vor bleibt.

„Vielleicht ist es auch nur ein Zufall, dass dieses Jahr keine Deutschwalliser vertreten sind. Ich habe das nur so festgestellt und kritisiere das nicht, ich finde es einfach nur schade, ist es doch der WALLISER Schriftsteller-Verband und nicht der Unterwalliser-Schriftsteller-Verband.“

Jolanda Brigger-Ruppen

An der literarischen Produktion von Oberwalliser Autorinnen und Autoren kann es nicht liegen, dass unser Deutschwallis im „Le Cahier 2021“ mit nur gerade zwei Schreibenden vertreten ist. Davon zeugen nur schon die reichen, vielfältigen und teils auch qualitativ hochstehenden Publikationen dieses Herbstes. Tatsache ist wohl aber, dass sich die Deutschwalliser Autorenschaft wohl eher nach dem deutschsprachigen Norden orientiert als nach dem anderssprachigen Welschland. Auch rückblickend lassen sich aus historischer Perspektive, von einigen Ausnahmen abgesehen, kaum viele Gemeinsamkeiten von Schreibenden im oberen und unteren Kantonsteil ausmachen. Für einen Brückenschlag zwischen den beiden Kantonsteilen hatte Ende der 1980er-Jahre der Schriftsteller Robert Steiner-Isenmann mit seiner Zeitschrift „Espoirs“ gesorgt, mit der er sich um ein besseres Verständnis zwischen dem Ober- und Unterwallis bemühte. Die Zeitschrift „Espoirs“ war durchwegs zweisprachig. Nun also hätte „Le Cahier“ des Walliser Schriftsteller-Verbands die Chance und vielleicht auch die Verpflichtung, sich als Publikations-Organ des Walliser Verbands auch aktiv um den oberen deutschsprachigen Kantonsteil zu bemühen. Doch leider ist „Le Cahier“ im Deutschwallis nur wenigen Schreibenden bekannt.

„Le Cahier 2021“ des Walliser Schriftstellerverbands

„Ich schicke dort Texte ein, weil ich gelesen werden möchte“, sagt Jolanda Brigger-Ruppen. Im soeben erschienenen „Le Cahier 2021“ ist sie mit zwei äusserst lesenswerten Erzählungen vertreten. In der Erzählung „Bild mit Chamäleon“ versetzt sie sich mit erlebter Rede in einen Häftling in einem Untersuchungsgefängnis. Sie nennt ihn Rheinbrand. Sehr berührend erzählt die Autorin, wie der Gefangene in seiner Zelle über die „Macht des Blicks“ philosophiert und sich buchstäblich in ein Gemälde verguckt, bis dass die Wirklichkeit sich in Fiktion auflöst und ihr zerstörerisches Werk beginnt.

„Rheinbrand krampfte, röchelte. Aber er nahm sich nicht als aufbäumender Körper wahr, sondern als eine Schale von riesigem Ausmass in welcher seine Seele liegt, leicht und zart wie ein Seidentuch.“

Aus: „Bild mit Chamäleon“ von Jolanda Brigger-Ruppen. In: „Le Cahier 2021“.

In der Erzählung „Wie hart das Leben an sich arbeiten muss“ lässt uns die Autorin die Geburt eines Kälbleins miterleben. Mit viel Empathie, mit Liebe zum Detail und mit einer bilderreichen Sprache beschert die Autorin ihren Leser*innen mit wenigen Zeilen ein tiefgehendes Lese-Erlebnis. Als Leser leidet man mit der Kuh Schlussa mit, bis dann endlich das Kälblein das Licht der Welt erblickt.

„Zeitgleich mit dem Riss der Nabelschnur fiel Köbi der Länge nach neben der Lache aus Blut und Fruchtwasser ins Stroh und rührte sich nicht mehr; währenddessen der Vater und Martha das Kalb trocken rieben, der Kuh einen Kübel lauwarmes Wasser hinstellten. Schlussa trank ihn halbleer. Und mit dem Restwasser begoss Martha unvermittelt den Bruder; damit er das Licht der Welt schnellstens wiedererlange.“

Aus: „Wie hart das Leben an sich arbeiten muss“ von Jolanda Brigger-Ruppen. In: „Le Cahier 2021“.

Michael Courtier hat es mit einem zweisprachigen Traktat über die Liebe ins „Cahier“ geschafft. Eine sehr empfehlenswerte zweisprachige Lektüre.

„Man sagt, man verliebt sich nur einmal richtig, und das für immer. Man sagt, es treffe einem wie der Schlag, „Liebe auf den ersten Blick.“

„ça ne m’est jamais arrivé ! Comment pourrais-je alors dire que je connais l’amour ? Sont ceci des mensonges ? Des exagérations ? C’est quoi, l’amour ?“

Aus: „Le Jour Venu“ von Michael Courtier. In: „Le Cahier 2021“.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig