Nichts für Kinder? Was ist geschehen mit all den Kinder- und Jugendbuchklassikern, mit denen wir aufgewachsen sind? Mit Büchern, die uns geholfen haben, Ängste zu überwinden und die Klippen des Erwachsenwerdens zu umschiffen? Kaum ein Kinderbuchklassiker, dem nicht schon irgendwelche Kritiker mit Schlagworten wie „kulturelle Aneignung“ die Verletzung von gesellschaftlichen Normen vorgeworfen haben. Bis noch vor wenigen Jahren galten Kinder- und Jugendbücher praktisch uneingeschränkt als Erziehungs-Mittel. Man traute den Kindern und Heranwachsenden zu, sich auch bei brisanten Themen und bei der Darstellung von Tabu-Themen eine eigene Meinung bilden zu können, nötigenfalls mit Hilfe der Betreuungs-Personen. Auch bei überzogenen Darstellungen, bei der Darstellung von möglicherweise Angst einflössenden Figuren und Szenen, ging man davon aus, dass sich Kinder in der geschützten Atmosphäre des Bücher-Lesens und Bücher-Betrachtens sogar psychisch zu stärken und auf ein Leben vorzubereiten imstande sind, auf ein Leben, das ja auch nicht immer nur ein Zuckerschlecken ist.
Resilienz – der Fachbegriff aus der Psychiatrie bezeichnet den Prozess, in dem Personen auf Probleme und Veränderungen mit Anpassung ihres Verhaltens reagieren. Das Lesen und Betrachten von herausfordernden Kinder- und Bilderbüchern, schafft einen angstfreien Raum, der es ermöglicht, sich fit zu machen für ein Leben, das später „Resilienz“ in mannigfacher Form erfordert. Heutige Kinderbuchautor*innen und deren Verlage verstehen sich darauf, auch brisante Themen vorbildlich und gewissenhaft in Buchform zu verpacken. Liebevoll und einfühlsam erzählte kürzlich die Kinderbuch-Autorin Cornelia Zahner den Oberwalliser Kindern die Geschichte von Ronni, dem Gletscherdrachen, der am schmelzenden Rhonegletscher aus dem Ei schlüpft und weder Mutter noch Vater oder Geschwister vorfindet. Aufgrund der Gletscherschmelze sind diese bereits ausgewandert. Die Autorin lässt sich dabei von fürchterlichen und grausamen Drachensagen aus verschiedenen Schweizer Regionen inspirieren. Sie versteht sich aber bestens darauf, das Fürchterliche und Angsteinflössende abzumindern, umzuwandeln und zu kanalisieren. Passend und kindgerecht bebildert hat die so entstandene liebenswerte Drachengeschichte die bekannte Berner Autorin Judith Zaugg.
Der gesellschaftliche Normalismus funktioniert nicht mehr in einer Welt, in der Kinder und Erwachsene gleichermassen leben und gleichen Anforderungen ausgesetzt sind. Kinder und Jugendliche haben ein Recht, offen und ohne Tabus zu leben oder sich auch eine neue Welt zu kreieren. Vertreter*innen der älteren Generation wehren sich dagegen. Da wird zum Beispiel ein „queeres“ Märchenbuch verboten. Ein Märchenbuch also, in dem drei Geschlechter vorkommen: männlich, weiblich und divers. Unser Nachbarland Deutschland hat einem Jugendbuch, das bevölkert ist von Transgender-Figuren, einen Preis verwehrt. Aus den USA schwappt die abstruse Haltung zu uns herüber, dass Jugendbücher, die rassistische Übergriffe thematisieren, verboten gehören. Auch den äusserst erfolgreichen Harry-Potter-Büchern werden transphobe Textstellen vorgeworfen und unterstellt. Viele Bücher mit stereotypen Figuren wie Indianer oder Eskimos stehen unter Generalverdacht. Noch bis vor wenigen Jahren als völlig unproblematisch eingestuft, sind sie nun ein Stein des Anstosses. „Eskimos“ sollte man nicht mehr sagen, diese Menschen heissen jetzt „Inuits“. Denn Eskimo heisst übersetzt „Rohfleischesser“, und damit reduzieren wir ein Volk auf eine einzige Tätigkeit, monieren die Kritiker.
Wir brauchen streitbare Kinderbücher! Die unglaublich kontroverse Diskussion ruft nun auch eine Gegenbewegung auf den Plan. Da werden etwa Buchpreise vergeben für diverse und inklusive Kinderbücher. Es sind dies Kinderbücher, die abrücken vom „binären Code“, von der Geschlechtereinteilung in nur männlich und weiblich, Bücher, die Transgender-Menschen als Protagonisten propagieren. Einige Kinderbuch-Verlage knicken keineswegs ein ob der Kritik, die da meistens aus kleinlich und kleinkariert aufgestellten gesellschaftlichen Kreisen laut wird. So zum Beispiel der Klett-Kinderbuchverlag. Auf der Verlags-Website haben die Fachleute das Ergebnis einer intensiv geführten Debatte publiziert.
„Eine Geschichte darf gerne mal unkorrekt und unkonventionell sein, denn so ist das Kinderleben glücklicherweise auch oft.“
Plädoyer auf der Website des Klett-Kinderbuchverlags
Mutige Kinderbuch-Verlage wagen sich ganz bewusst auch an unliebsame Themen. Sie tun dies auf eine erfrischende und freche Art und Weise. Was mir persönlich am Herzen liegt: Kinderbücher müssen nicht in erster Linie den Erwachsenen gefallen, obschon es die Erwachsenen sind, welche die Bücher bezahlen. Bilderbücher und Kinderbücher sollen unsere Kinder auf eine Welt vorbereiten, die sich ständig verändert, und die auch zunehmend offener wird. Die Kinder- und Jugendliteratur soll den Geist weit öffnen für eine Welt, die unseren Traditionen nicht mehr immer entspricht, für eine Welt, die auch nach provokativen und unkonventionellen Stoffen verlangt.
Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig