Susana Andereggen und Sandra Franzen schreiben über die Walliser Auswanderung im 19. Jahrhundert nach Argentinien

Sandra Franzen (links) und Susana Andereggen präsentierten ihre Bücher auf Einladung der Kulturkommission Grengiols. (Bild: Kurt Schnidrig)

Ihre Vorfahren verliessen im 19. Jahrhundert das Oberwallis, wollten eine Weile in Argentinien bleiben und dann reich zurückkehren. Den Traum vom Aufstieg des armen Oberwalliser Bauern zum reichen argentinischen Walliser-Gaucho, den wollten sie leben. Doch dann kam alles ganz anders. Nun sind Sandra Franzen und Susana Andereggen auf Besuch in ihrer Urheimat, in Grengiols, um ihre Nachforschungen und ihre Abenteuer in Buchform zu präsentieren.

Bahnhof in Paris, im September 1865. Die Familie Näpfli/Amacker aus dem Wallis wandert nach Amerika aus. Zusammen mit einem Konvoi von Wallisern, geführt von einem Agenten einer Auswanderungs-Gesellschaft, steht ein Aufenthalt in Paris auf dem Programm. Die dreijährige Catalina spielt mit ihrer Puppe. Bahnlärm und Lautsprecher. Rennen und Schreien auf dem Bahnsteig. Plötzlich löst sich die kleine Catharina Näpfli von ihren Eltern. Catharina ist unauffindbar. Die Eltern entscheiden sich trotzdem, in den Zug einzusteigen, der sie zum Hafen in Le Havre führt. Dort nehmen sie das Schiff, welches sie schlussendlich nach Santa Fe de las Americas bringt. Die Mutter plagt ihr Gewissen. Warum bin ich eingestiegen ohne meine Tochter Catalina? Die Äuglein von Catalina verfolgen die Mutter im Traum. Warum habt ihr mich zurückgelassen?

Zu neuem Leben erweckt

Im Lesedrama „Das Mädchen aus dem Wallis“ schaut die Autorin Sandra Franzen in die Innenwelt des Mädchens Catalina. Sie ist berührt von der Entscheidung der Eltern, ihre Tochter auf dem Weg nach Argentinien zurückzulassen. Sie stellt sich das verlassene Mädchen in ihrer Fantasie vor, liebkost es mit Worten und stellt das Mädchen in ihrer Gedankenwelt den Eltern gegenüber. In ihrem Buch erzählt sie das reale Ereignis fiktiv weiter. Was sich auf dem Bahnsteig in Paris wirklich ereignet hat, könnte man so oder so weitererzählen. An der Entscheidung, welche die ausgewanderten Eltern getroffen hatten, wird sich nichts mehr ändern. Im Buch „Das Mädchen aus dem Wallis“ endet die Realität auf dem Bahnsteig in Paris, und es beginnt die Fiktion. Was nur ist dem kleinen, verlassenen Mädchen Catalina widerfahren?

Beim Lesen in ihrem Buch schiessen der Autorin Sandra Franzen die Tränen in die Augen. Die ehemalige Anwältin ist aus ihrem Geburtsort, aus Jeronimo Norte, weggezogen. Heute lebt sie als Schauspielerin und Theaterleiterin in Buenos Aires. Der authentische Fall des Mädchens, das während der Reise nach Argentinien auf dem Bahnhof in Paris verlorenging, beschäftigt sie bis heute. Ein Projekt, das Drama des verlassenen Mädchens auch im Wallis auf die Bühne zu bringen, existiert bereits. Die Geschichte „Das Mädchen aus dem Wallis“ sei grundlegend, erklärt die Autorin, weil ihr Geburtsort Jeronimo Norte – genauso wie das Drama – ebenfalls aufbaue auf etwas, was verloren gegangen, was abwesend ist. Mit dem Buch komme alles wieder zurück, auch das verschwundene Mädchen Catalina, auch die verlorene Heimat. Indem sie Catalinas Geschichte aufgeschrieben habe, habe sie die Person, die schon lange tot ist, zu neuem Leben erweckt.

Die Autorinnen Sandra Franzen und Susana Andereggen mit Moderatorin Karin Hopfe und Musikerin Bettina Herzog. (Bild: Kurt Schnidrig)

Die Geschichte der Walliser Auswanderer recherchiert und rekonstruiert hat die Autorin Susana Andereggen, die zusammen mit Sandra Franzen mit Erinnerungen in Buchform in ihrer Urheimat, im Goms, auf Besuch weilt. Auch Susana Andereggen wurde in San Geronimo Norte in eine Schweizer Auswanderer-Familie hineingeboren. Als Journalistin hatte sie in der Vergangenheit immer wieder Reisegruppen aus Argentinien in ihre ursprüngliche Heimat begleitet, nach Grengiols, Martisberg, Reckingen, Gamsen oder Baltschieder. In ihrem Buch „Das Edelweissband“ verarbeitet sie viel Archivmaterial, aus rund 200 Briefen und Dokumenten ihrer eigenen Familie aus dem 19. Jahrhundert. Entstanden ist eine spannende Familien-Saga, die rund 150 Jahre umspannt, die Zeit von 1857 – 2019.

Eine abenteurliche Familien-Saga

Protagonistin ist Rosalia, die allen Besitz im Oberwallis zurücklässt und in Argentinien ein neues Leben beginnt. Die Autorin erzählt aus ihrer eigenen Familiengeschichte. „Mein Urgrossvater Alexander Andereggen ist 1827 in Biel im Goms geboren und seine Frau Rosalia Erpen in Mörel. 1857 wanderten sie nach Argentinien aus und gehörten zu einer Gruppe von Pionieren in der Kolonie San José in der Provinz Entre Rios“, blickt sie zurück.

Heute lebt Susana Andereggen in Santa Fe. Dort leitet sie ein Seminar zum Thema Einwanderung und widmet sich der Erforschung der Einwanderung aus dem Oberwallis.  

Im Buch „Das Edelweissband“ erzählen Frauen ihre Erlebnisse in Ich-Form, mit ihrer eigenen Stimme also. „Ich wusste nicht was ich in den Koffer packen sollte“, erzählt eine der Oberwalliser Auswanderer-Frauen. „Mein Hochzeitskleid? Den Kerzenleuchter? Etwas Erde von unserem Garten? Stricknadeln? Suppenschüsseln? Oder vielleicht ein Gewehr, um sich gegen die Barbaren zu verteidigen?“

Susana Andereggens Buch gebührt innerhalb der Auswanderer-Literatur ein besonderer Stellenwert, weil in bisherigen Erzählungen vorwiegend nur von Männern berichtet wurde, die als Pioniere und als Abenteurer in die Geschichte eingegangen sind. Den Frauen komme bei der Auswanderung und bei der Besiedelung von San Jeronimo Norte jedoch eine ebenso wichtige Bedeutung zu wie den Männern, gibt sich die Autorin überzeugt. So erzählt Susana Andereggen vom harten Alltag der Frauen in der argentinischen Kolonie, sie berichtet von Tragödien, die Frauen durchleben mussten, sie schwärmt aber auch von freudigen Ereignissen aus Sicht der Frauen, die das Abenteuer der Auswanderung erfolgreich durchlebt haben.

Susana Andereggen erzählt emotional und zutiefst berührend die Geschichte ihrer eigenen Familie. Die Geschichte sei aber repräsentativ. „Es könnte die Geschichte von irgendeiner Auswanderer-Familie sein“, versichert sie. In ihrem Buch „Das Edelweissband“ nimmt sie ihre Leserinnen und Leser mit auf eine Reise zu den eigenen Wurzeln, zur eigenen Geschichte. Das Heimweh nach der alten Heimat sei immer ein treuer Begleiter der Oberwalliser Siedler in San Jeronimo Norte gewesen und sei es noch, sinniert sie vor sich hin.

Sandra Franzen: La Niña del Wallis. Das Mädchen aus dem Wallis. Editorial de l’aire. Santa Fe, Argentina. Deutsche Übersetzung Vera Hosennen. ISBN 978-978-4477-22-4

Susana Andereggen : Das Edelweissband. Editorial de l’aire. Santa Fe, Argentina. Deutsche Übersetzung: Vera Hosennen. ISBN 978-978-4477-24-8

Hören Sie eine Rezension zum Buch „Das Edelweissband“ von Susana Andereggen. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Stefanie Sterren)
Hören Sie die Autorin Susana Andereggen mit einer Kostprobe aus dem Buch „Das Edelweissband“, sowie Organisatorin und Moderatorin Karin Hopfe, Mitglied der Kulturkommission Grengiols.
Hören Sie eine Rezension zum Buch „Das Mädchen aus dem Wallis“ von Sandra Franzen. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Stefanie Sterren)
Hören Sie die Autorin Sandra Franzen mit einer Kostprobe aus dem Buch „Das Mädchen aus dem Wallis“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Stefanie Sterren)

Text, Bilder und Radiosendung „Literaturwälla“: Kurt Schnidrig