Wenn heute der FC Sion in Genf den Cupfinal gegen Meister Basel bestreitet, dann fehlen auf dem Papier wohl leider einfach die aktuellen sportlichen Ressourcen dazu. Doch bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt, denn helfen könnte der „Mythos“. Der sogenannte „Cup-Mythos“ besagt, dass der FC Sion ein Endspiel im Schweizer Fussball-Cup nicht verlieren kann. Genährt wird der Cup-Mythos von der glanzvollen Cup-Geschichte des FC Sion, in der es der Walliser Fussball-Club schaffte, zusammen mit dem vereinigten Wallis im Rücken 13 Siege in 13 Final-Teilnahmen zu holen.
Der Begriff „Mythos“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet etwa „sagenhafte Geschichte“. Mythen sind sehr alte Ursprungserzählungen. So sind in der griechischen Antike viele Götter- und Heldensagen entstanden. All diesen Mythen ist gemeinsam, dass es sich um mündlich überlieferte Geschichten handelt, in denen „übernatürliche“ Dinge geschehen. Die Unbezwingbarkeit des FC Sion in einem Cup-Final wäre demnach ein echter Mythos, bei dem es sich um ein übernatürliches Phänomen handelt (oder handeln würde, falls der Mythos heute nicht zerstört wird…).
Die Weltgeschichte ist voller Mythen, viele übernatürliche Dinge geschehen, und vieles bleibt trotz des grossen Fortschritts der Wissenschaften schlicht und einfach unerklärlich. Wir sprechen zum Beispiel vom „Mythos Marilyn Monroe“ oder vom „Mythos Loch Ness“. Sowohl das Sex-Symbol aus den 50er-Jahren als auch das schottische Ungeheuer sind Fakten, die sich wissenschaftlich zwar erklären lassen, die wir aber gerne zu unerklärlichen Phänomenen hochstilisieren. Vielleicht braucht unsere rationale Welt diese letzten Träume.
Das grosse Interesse an Mythenerzählungen lässt sich über Jahrhunderte zurückverfolgen. In der Epoche der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert rückte die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt und man stellte übernatürliche Weltanschauungen zunehmend infrage. Man wandte sich ab von „mythischen“ Weltbildern. Die Romantiker warfen dann den Aufklärern vor, die Welt „entzaubern“ zu wollen und sie besannen sich zurück auf die Mythen. Auch wenn die mythischen Erzählungen keinen Anspruch auf „Wahrheit“ und „Gültigkeit“ erheben, ist ihre Faszination bis heute ungebrochen.
Bis in die heutige Zeit bilden Mythen die Grundlage für das Erzählen von Geschichten. Den Mythos erschuf sich der Mensch, um die unerklärlichen Vorgänge um sich herum erklärbar zu machen. Die Unterscheidung der Mythen erfolgt in: Mythen über den Ursprung der Welt, Mythen über das Ende der Welt, Mythen über die Entstehung der Götter, Mythen über die Entstehung der Menschen, Mythen über die Entstehung von Naturphänomenen.
Wo nun wäre der Mythos von der Unbezwingbarkeit des FC Sion in einem Cup-Final einzuordnen? Eventuell unter den Mythen über die Entstehung der neuen Götter (Chadrac Akolo, Moussa Konaté, Geoffrey Bia, Anton Mitryushkin, Reto Ziegler, Jagne Pa Modou, Elsad Zverotic, Nicolas Lüchinger, Veroljob Salatic, Carlitos). Möglich wäre auch die Einordnung unter die Mythen über Naturphänomene…
Was leider aber auch gesagt werden muss: Mythen leben auch von der Vergänglichkeit. Präsident Constantin pflegt zu sagen: Irgendwann einmal wird die Serie zu Ende gehen. Aber nicht dieses Mal… Der Mythos des FC Sion kennt zwei Verfalldaten.
Das eine Verfall-Datum ist gegeben durch die 13 Sterne im Walliser Wappen, die mit dem Gewinn des 13. Cup-Finals in Folge komplettiert wurden. Das andere Verfall-Datum ist die Endlichkeit eines jeden Mythos, sobald der Bogen überspannt wird. Wer zu viel will, der riskiert abzustürzen. Dieses tragische Faktum belegt der altgriechische Mythos von Dädalus und Ikarus.
Dädalus stieg mit seinem Sohn Ikarus auf einen hohen Felsen nahe dem Meer und schärfte Ikarus noch einmal ein, ja nicht zu hoch (die Sonne könnte das Wachs schmelzen, mit dem die Federn an den Flügeln befestigt waren) oder zu tief (die Gischt des Meeres könnte seine Flügel durchnässen) zu fliegen. Der junge Ikarus genoss das Fliegen und stieg übermütig immer höher in den Himmel hinauf…
Den Schluss dieser Geschichte kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser.
Zum Bild: Mythen leben von der Vergänglichkeit: Ein verlassenes Tor vor traumhafter Bergkulisse. Foto: Kurt Schnidrig.