Heute wird der Dichter Pierre Imhasly in Visp zu Grabe getragen. Als ich ihn im November 2000 im Visper Jazz Chälli traf (Bild), da hatte er sich eine lange poetische Reise vorgenommen. Er war voller Schaffenskraft, und so möchte ich ihn in Erinnerung behalten.
Vier Stationen mindestens sollte seine poetische Reise ins neue Jahrtausend beinhalten. Mit der „Rhone Saga“ hatte er eine Station bereits erreicht. Nun folgte „Paraiso si“, die zweite Station. An der dritten schrieb er bereits und von der vierten Station wusste er zumindest, wie sie aussieht.
Stellvertretend für Pierre Imhaslys Gesamtwerk lasse ich heute an seinem Begräbnis-Tag seine paradiesische Dichtung „Paraiso si“ nochmals aufleben, ich habe mich in der vergangenen Nacht durch sein langes Gedicht gearbeitet und dabei innig an Pierre gedacht und an die wenigen, aber äusserst inspirierenden Begegnungen mit ihm. Nach einer dieser Begegnungen hatte er mir eine von Hand beschriebene Karte zukommen lassen. Darauf standen die folgenden Zeilen, die ich seither sorgsam aufbewahrt habe: Lieber Kurt – nicht üblich, korrekterweise, in unserem Metier, will ich Dir gerne herzlich danken für den Durchbruch, Einbruch, Dammbruch, den Du mir vielleicht geschaffen hast an dieser gnadenlos ungemütlichen Heimatfront (…). Angesprochen hatte Pierre damit meine publizistische Arbeit zu seiner „paraiso“-Dichtung.
„Paraiso si“ ist ein langes Gedicht. Episch, lyrisch: beides. Mit kleinen Gedichten konnte er nichts anfangen. Pierre war ein Erzähler. Ein Gedicht mit vielen Formen ist es und dennoch eine runde Geschichte. Mit drei Akten, weil Corrida und Dantes Buch so gebaut sind. Eine Art profane Divina Commedia vielleicht. Den Beginn angesetzt im alten Leben, hier unten. Einen Zwischenteil angesiedelt in der Vorhölle, Purgatorio. Und schliesslich der Paradiso-Teil, hienieden, auf einem Perron im Bahnhof Genf, auch genannt La Gloria, eigentlich die Überhöhung der Madonna im Himmel. Bei Pierre profan als lebende Madonna anwesend. Auch als vita nova. Als ein neues Leben in einer neuen Welt. Als Internet-Welt, virtuell, vielleicht, wer weiss. Denn Paradiso muss auf Erden möglich sein. So weit die Pläne, die Architekturen, die Ebenen. Aber allzu schematisch ist das Ganze für den Poeten beim Versuch, sie zu installieren.
„Paraiso si“ ist ein Troubadour-Gedicht, ein irdisches Gedicht mit Bodrerito, der Frau, meiner Frau, betont der Dichter. Was ist Liebe? Heute vielfach nur noch ein banales Wort, eine Worthülse. Er getraut sich, der Dichter, er macht das Thema wieder gross, das Wort wieder inhaltsschwer. Ohne Liebe macht der Mensch keinen Sinn. Der Stierkampf, die Corrida, das ist auch so ein Acte d’amour. Zu transzendieren, wie die Liebe zwischen Mann und Frau. Es gibt vielerlei Actes d’amour. So gesehen ist das Poem vor allem ein Liebesgedicht. Weil Dichtung, deckungsgleich mit Liebe, über die Sinne abläuft. Eine Dichtung mit Rhythmus, mit Symbolen, Metaphern und Bildern. Der Rhythmus animiert dazu, wegzugehen, auf die Reise zu gehen. Die Bilder sind Auslöser, schaffen Assoziationen, spulen in den Köpfen der Leser einen Film ab.
Der Leser, die Leserin muss das Werk vollenden, das ist die Intention des Dichters. Dazu gibt es hundert (Lese-)Arten. Die Worte bringen Melodie, jedes Wort hat seine Aura. Paraiso si – ein Erkenntnisprozess. Will meinen: Wenn es auf der Erde nicht möglich ist, gibt es kein Paradies.
Das ist des Troubadours vollendete Harmonie. Thanks a lot, stai bene, Pierre.
Zum Bild: Eine inspirierende Begegnung im Visper Jazz-Chälli: Der Dichter Pierre Imhasly, der Verleger Michel Leiner vom Stroemfeld-Verlag und der Gitarrist Speedy. Foto: Kurt Schnidrig.