Seit ihrer Kindheit fühlt sie sich verbunden mit den elementaren Kräften, mit den Sagen und Mythen der Oberwalliser Berge. Hier ist sie aufgewachsen und hier ist sie der Frage nachgegangen, weshalb das Weibliche in den Walliser Sagen so stiefmütterlich behandelt wird: Ursula Walser-Biffiger. In ihrem Buch „Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen“ (Verlag Hier und Jetzt) geht sie der Frage nach, wo denn die Frauengestalten in Sage, Mythen und Märchen geblieben sind. In insgesamt 51 Geschichten aus dem Wallis hat sie nach Frauengestalten gesucht. Gefunden hat sie das weibliche Element einzig in Gestalt von gruseligen Hexen. Wie lässt sich dieser Befund erklären? Die Autorin sagt es ganz offen: Weil die Herausgeber früherer Sagensammlungen vor allem Pfarrherren waren, denen alles Weibliche grundsätzlich verdächtig, sündhaft und gefährlich erschien, tarnten erzkonservative Kirchendiener die kraftvollen, mächtigen und geistreichen Frauen hinter gruseligen Hexengestalten.
Als Ur-Mütter und Göttinnen verehrten die Menschen aus früherer Zeit unsere Berge. Ein herausragendes Beispiel für eine Ur-Mutter ist das Matterhorn. Bergführer und Berggänger aus der Pionierzeit des Alpinismus verehrten das Matterhorn als eine machtvolle Bergmutter. Ursula Walser-Biffiger will herausgefunden haben, dass dem „Hooru“ in einem veritablen Berg-Kult höchste Verehrung zuteil wurde. Der Kult um die legendären Berge soll sich auch im Bau von zahleichen Marien-Kapellen manifestiert haben.
Quellfrauen hielten sich an Bächen und an deren Ursprung auf. Es soll sich dabei um wilde Naturfrauen gehandelt haben. Auch die Quellfrauen waren, gemäss Recherchen der Autorin, den früheren Pfarrherren unheimlich. Vielleicht waren die wilden Quellfrauen den Dienern des früheren Katholizismus allzu erotisch, so dass die Kirche zum damaligen Allheilmittel griff: Die wilden Naturfrauen wurden dämonisiert und ersetzt durch männliche Protagonisten.
Falsche Schlangen gab es natürlich auch schon früher. Im Buch von Ursula Walser-Biffiger ist von einer Lötschentaler-Sage zu lesen mit dem Titel „Die Kronenschlange“. Eine Lötschentaler Hirtin hatte einer weissen Schlange mit einem Krönlein auf dem Kopf regelmässig eine Schale mit Milch hingestellt. Schlangen werden in Sagen oft als Göttinnen der Erde gesehen. Wer die Schlange respektiert, dem beschert sie ein angenehmes Leben. Die Lötschentaler Männer aber waren scharf auf sie, nicht auf die Hirtin, aber auf die Krone der Schlange. Die Männer schritten zur Tat und stahlen die Krone vom Kopf der weissen Schlange. Der Diebstahl soll zur Folge haben, dass Schlangen seither gefährlich und verschlagen sind. Merke: Wer für sich selbst, unter Anwendung von Gewalt, einen Vorteil verschaffen will, der lädt den Fluch der Göttinnen der Erde auf sich.
Spinnerinnen gab es auch schon früher, damals als Bezeichnung für Frauen, die das alte Handwerk des Spinnens ausübten. Sie verspannen die Fäden mit Hilfe einer Spindel zu Tuch. Aber schon damals hatte der Volksmund den Spinnerinnen besondere zusätzliche Eigenschaften angedichtet. In den Gommer Sagen erscheint die Spinnerin oft als ein altes Weib mit einer bösartigen schwarzen Katze auf dem Buckel. Die hexenartige Spinnerin trägt eine spitzige Spindel bei sich, mit deren Hilfe sie das Schicksal der Menschen spinnt. Grundsätzlich braucht sich niemand vor der Spinnerin zu fürchten, sie tut niemandem etwas zuleide. Allerdings – so geht die Sage – müssen sich faule Mädchen vor ihr in Acht nehmen: Eine junge Frau, die nicht fleissig ihrer Arbeit nachgeht, die bekommt Besuch von der Spinnerin. In solchen Fällen eilt die Spinnerin herbei und piekst faule Mädchen ins „Fitlu“, also in den Po, in den Hintern. Auch das Sagenerzählen selbst ist etwas Gesponnenes, ein wertvolles Tuch, an dem verschiedene Generationen gearbeitet haben.
Sagenerzählen war immer schon ein lebendiger Prozess – wie ein altes, wertvolles Tuch, das von Menschen verschiedener Generationen gesponnen, gefärbt, gewebt, geflickt, aufgetrennt und neu vernäht wird.
Ursula Walser-Biffiger
Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig