Silvia Eyer ist „Zurück im Leben“. Eine denkwürdige Buch-Vernissage.

Silvia Eyer stellte sich in der ZAP Brig den Fragen des Moderators Michael Brunner und des zahlreichen Publikums. (Bild: Kurt Schnidrig)

Warum nur zerrt Silvia Eyer ihr ganzes bisheriges Leben an die Öffentlichkeit? Warum macht sie ihre Drogensucht öffentlich? Warum spricht sie über ihren beschwerlichen Weg aus den Abgründen reichlich verkorkster Jugendjahre? Fragen, die sich nicht wenige Vernissage-Besucherinnen und -Besucher, teils auch ganz unverblümt, stellten. Vielleicht, weil Silvia Eyer aufgrund ihrer Erfahrungen nun als Fachfrau in sozialen Fragen gelten möchte? Weil sie als Integrationsdelegierte für die Gemeinden Naters und Brig-Glis ihre Erfahrungen in problembehafteten Situationen einbringen kann? Vielleicht.

„Aufstehen. Weitergehen. Nie die Hoffnung aufgeben.“ Silvia Eyer begegnet kritischen Fragen mit einer klaren Botschaft, die sich auch in ihrem Buch wiederfindet. 147 Drogentote führt das Statistische Amt der Schweiz für das Jahr 2021 auf. 15996 Personen haben sich aufgrund ihres Opioidkonsums in eine Substitutionsbehandlung mit Methadon begeben. Wenn Silvia Eyers Buch auch nur eines dieser Schicksale zu mildern imstande ist, hat es ein wichtiges Ziel erreicht.

Moderator: „Hast du deine Jugend verkauft?“ – „Hattest du die falschen Freunde?“

Silvia Eyer: „Nein, ICH bin diesen Weg gegangen!“

Autorin Silvia Eyer antwortete selbstsicher auf tendenziöse Fragen des Moderators
„Das ist mein Leben, das mich ausmacht!“, resümierte Silvia Eyer und erhielt dafür Szenen-Applaus. (Bild: Kurt Schnidrig)

Trotzdem bleiben offene Fragen. Fragen auch aus literaturtheoretischer Sicht. Kann ein derart realistisch geschriebenes Buch auch Menschen, die den Kick suchen, deren Drang nach Freiheit und Abenteuer übermächtig ist, den Weg in die Drogensucht weisen, zeigen, vorleben? Im Buch werden Orte genannt, es werden Treffpunkte der „Szene“ bekanntgegeben, es werden Modalitäten beschrieben. Treffpunkte in Brig, Bern, St.Gallen und weiteren Städten werden öffentlich gemacht. Wie sie in ihrem Buch berichtet, ist auch die Autorin selbst durch ein Buch und durch dessen Verfilmung dem „Ansteckungseffekt“ erlegen.

„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, das Buch mit den (Drogen-) Erfahrungen der Berliner Protagonistin Christiane F., wurde 1981 verfilmt. Autorin Silvia Eyer schreibt in ihrem Buch: Der Film war „eine Art Anleitung für mich“. Und: „Ich könnte mir vorstellen, dass der Film auf den einen oder die andere Jugendliche genauso wirkte.“ (S.42). Wie die Autorin im Buch schreibt, ist sie zusammen mit einer Gefährtin dann auch tatsächlich aus dem Rehabilitationszentrum Lutzenberg im Kanton Appenzell abgehauen, weil sie nach Berlin wollte, zum Bahnhof Zoo. Weil sie wie Christiane F auf der Strasse leben wollte, weil sie Geld zusammenschnorren und sich nichts sagen lassen wollte, so wie dies die Protagonistin Christiane F. in Buch und Film vorlebt.

In Literatur und Psychologie ist man sich im Klaren darüber, dass detaillierte Medienberichte zur Nachahmung anregen können. Der sogenannte „Werther-Effekt“ hat zu Empfehlungen geführt, die in einem Leitfaden für Journalist*innen zusammengefasst sind. Manche Formen der Berichterstattung können Nachahmer erzeugen, sagen Psychologen und Gewaltforscher. Sie warnen vor der Darstellung allzu realistischer Details. Dass Berichte auch Nachahmer ermuntern, ist inzwischen wissenschaftlich belegt. Die Wissenschaft spricht von einem „Ansteckungseffekt“.   

Medien und Verlage, auch der aktuelle Journalismus auf vielen Online-Portalen, gieren nach menschlichen Schicksalen und Dramen. Dabei hieven sie nicht selten nur die Symptome eines verkorksten Lebens, einer Krankheit oder eines mitleidheischenden Unglücksfalls in die Schlagzeilen. Dazu gehört die Drogensucht. Auch die Drogensucht ist symptomatisch für Unstimmigkeiten, deren Ursachen viel tiefgründiger sind.

„Mein Weg aus der Heroinsucht“ – natürlich trifft der Untertitel von Eyers Buch zu, er bezieht sich jedoch, so wie das gesamte Buch, auf die mehr oder weniger sichtbaren Symptome einer Problematik, die viel tiefer zu verorten ist. Die Drogensucht mit all ihren Ausformungen und Begleiterscheinungen ist Objekt der Begierde von sensationshungrigen und auflagebedürftigen Verlagen und Medien. Was aber wirklich Sache ist, präsentiert sich viel komplexer und lässt sich weniger flott und skandalträchtig in Schlagzeilen kleiden.

Die wahre Problematik in Silvia Eyers Buch lässt sich nur am Rande oder gar nur zwischen den Zeilen herauszulesen. Wie geht unsere Gesellschaft mit hochsensiblen Menschen um? Wie kann unsere Gesellschaft, wie können Medizin, Psychiatrie und erziehungsberechtigte Personen, den ihnen anvertrauten (jungen) Menschen effizient Hilfe leisten? Wie lassen sich Selbstwertgefühl, Selbstsicherheit und Selbstliebe vermitteln und stärken? Wie lässt sich der Weg in die Drogensucht vermeiden? Wie sieht eine erfolgversprechende Präventionsarbeit aus? Auf derartige Fragen geht das Buch nicht ein.

Symptombekämpfung statt Wurzelbehandlung? Im Kern müsste sich ein Sachbuch um Fragen kümmern, die eine aktuelle Problematik nicht weniger (junger) Menschen an der Wurzel bekämpft. „Lehrpersonen machten sich Sorgen wegen der Zurückgezogenheit“ (S. 23). Die Autorin spricht als Ich-Erzählerin die Grundproblematiken an: „Hochsensibilität“ und „Reizfilterschwäche“. Nur beobachten, feststellen und registrieren reicht nicht. Wer jemals mit jungen Menschen gearbeitet hat, der stellt sich Fragen wie: Was hätten Erziehungsberechtigte tun können? Wie lässt sich der Umgang mit hochsensiblen und mit Reizen überfluteten Jugendlichen seitens der Erziehungsberechtigten effizient und wirksam gestalten? Wie lässt sich ein Abgleiten in die Abwärtsspirale der Drogensucht womöglich verhindern?

Die Sekundarschulstufe scheint entwicklungspsychologisch dem Kiffen, Rauchen, Alkohol, Cannabis, Ecstasy, LSD, Heroin, Kokain… Tür und Tor zu öffnen. Ob ein massiver Polizeieinsatz mit Verhaftung einer bereits drogensüchtigen 15-Jährigen eine Hilfe sein kann, so, wie dies Autorin Silvia Eyer in ihrem Buch beschreibt, darf bezweifelt werden. Was aber wohl zutreffen mag ist die Forderung, dass Kindern und Jugendlichen deutlich ihre Möglichkeiten und Grenzen aufzuzeigen sind.

„Kinder brauchen Grenzen“ ist eine immer wiederkehrende Forderung, die jedoch heutzutage aus einer (teils berechtigten) Angst vor der Verletzung der kindlichen Integrität seitens von Lehrpersonen und Eltern tunlichst vermieden wird. Kinder und Jugendliche brauchen Grenzen, um Halt, Sicherheit und Schutz zu finden. Grenzüberschreitungen sollten geahndet werden. Wie eine zeitgemässe Erziehung aussehen könnte, halten einschlägige, leider häufig bereits ältere, Sachbücher fest.

   Buch-Tipps zum Thema „Grenzen setzen“

  • Dreikurs Rudolf / Soltz Vicki: Kinder fordern uns heraus. Wie erziehen wir sie zeitgemäss? Klett Cotta Verlag, 2006
  • Kast-Zahn Annette: Jedes Kind kann Regeln lernen. Vom Baby bis zum Schulkind: Wie Eltern Grenzen setzen und Verhaltensregeln vermitteln können. Oberstebrink Verlag, Ratingen 2002
  • Rogge Jan-Uwe: Kinder brauchen Grenzen. Rowohlt Taschenbuch Verlag; Hamburg 1993

Hat die Prävention nicht gefruchtet, dreht sich die Abwärtsspirale der Drogensucht oftmals unaufhaltsam. Ein Zitat aus Silvia Eyers Buch gibt diesbezüglich ganz besonders zu denken: «Es schaffen die wenigsten, aus der Sucht herauszukommen» (S.73). Auch Markus, Said, Leo… die Weggefährten der Süchtigen, oftmals selbst therapiebedürftig, strecken kollegial, hilfsbereit und hoffnungsvoll ihre Hände aus. Sie wollen ein verkorkstes Leben geradebiegen und erreichen nicht selten das Gegenteil. Ganz zu schweigen vom Leidensweg, den die Eltern für ihr eigen Fleisch und Blut zu gehen bereit sind.

Perspektiven, Lebensplanung und Laufbahnberatung sind rettende Lichter am Ende des Tunnels. Sie bringen zurück, was im bisherigen Leben entweder gefehlt hat oder verlorengegangen ist: Selbstwertgefühl, Selbstsicherheit und Selbstliebe.

Hören Sie dazu den Podcast aus der Sendung „Literaturwälla“, Teil 1 (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Simon Kalbermatten)
Hören Sie dazu den Podcast aus der Sendung „Literaturwälla“, Teil 2. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Simon Kalbermatten)

Text, Bilder und Radiosendung: Kurt Schnidrig