Borcherts Drama „Draussen vor der Tür“ auf der Kollegiumsbühne. Und die Frage: Warum?

Ein hartes Stück Weltliteratur erlebt, erfahren, erlitten: Spielerinnen und Spieler der Kollegiumsbühne Brig. (Bild: Kurt Schnidrig)

Eine solide Ausbildung ist eine Voraussetzung für ein erfülltes Leben. Das Fach Deutsch und die deutsche Literatur stehen dabei an vorderster Stelle. Tief bewegt und emotional berührt hat mich am diesjährigen Studententheater des Kollegiums Spiritus Sanctus in Brig wieder einmal das Drama «Draussen vor der Tür» von Wolfgang Borchert.

Die Nachkriegs-Literatur – mit Protagonisten wie Borchert, Böll, Brecht und Tucholsky – hilft mit bei der Bewältigung von Traumata in einer Welt voller Kriege, Dramen und Tragödien. Der Theatergruppe und der organisierenden Sectio Brigensis ist zur Wahl des Stücks zu gratulieren. Dies gleich aus mehreren Gründen.

Das Publikum im Theatersaal des Kollegiums Brig musste das psychische und physische Leid, das der Krieg verursacht, wahrnehmen, ertragen, erleiden. Die Analogie zu heutigen Kriegen im Nahen Osten zwischen Israel und der Hamas oder zwischen Russland und der Ukraine drängt sich auf.

Mit der erschütternden Schlussfolgerung: Die Menschen haben aus der Weltgeschichte, aus der bitteren Kriegserfahrung des vergangenen Jahrhunderts, leider nichts gelernt. Ist die Menschheit gar unfähig, aus dem vielen Leid und der Tragik ihrer kriegerischen Vergangenheit zu lernen?  

Als Experte für Deutsch und Literatur am Kollegium Spiritus Sanctus in Brig werde ich immer wieder mal nach der Bedeutung der Literatur innerhalb des Fächerkanons einer Mittel- oder Hochschule gefragt. Gerne bezeuge ich: Die Literatur ist lebenswichtig. Warum?

Die Literatur bietet Muster an für eine echte Lebenshilfe. Aus der schöngeistigen Literatur, aus der Belletristik also, lassen sich mit Hilfe von gut ausgewählten Werken viele echte Lebenssituationen analysieren, planen und meistern.

Die Literatur schärft sowohl das Analytische und Logische als auch die Fantasie, die Intuition und das Vorstellungsvermögen. Die Literatur liefert Anwendungs- und Betätigungsfelder für fast alle Lebenslagen. Und: Die Literatur schult vor allem auch die psychologische und kommunikative Lebensführung.

Zur literarischen Allgemeinbildung gehören aktuelle Bücher genauso wie Bücher aus den verschiedenen literarischen Epochen, von der Klassik bis in die heutige Zeit. Oder wie soeben auf der Bühne miterlebt: Literatur, die beiträgt zu einer Auseinandersetzung mit den traumatischen Erfahrungen des Krieges und der Nachkriegszeit.

Maturandinnen und Maturanden setzen sich aber auch mit topaktueller Literatur auseinander. So etwa mit dem Buch der deutschen Politikerin und Schriftstellerin Juli Zeh „Über Menschen“. Es ist dies ein Roman, der die Corona-Zeit abbildet, dargestellt vor allem durch die Flucht aus der Stadt aufs Land. Die Sehnsucht vieler Menschen nach Freiheit kann von vielen Leserinnen und Lesern aus tiefstem Herzen nachempfunden werden.

Was kann die Literaturgeschichte mit ihrem Epochendenken beitragen? Die literarischen Epochen helfen auch heute noch beim Einordnen und beim Bündeln der zahlreichen literarischen Aspekte und Strömungen.

Gemäss Goethe und Schiller gehört primär zu den Aufgaben der Literatur, einen menschlichen Idealzustand zu beschreiben. In der literarischen Klassik ist bereits erlebbar, was heute noch Lebensziel und Idealbild von uns allen sein soll.

Die darauffolgende Epoche der Romantik lehrt uns, den Blick von allem, was uns umgibt, weg und auf unser Innerstes zu lenken. Die Überwindung von alltäglichen Begrenzungen und das Verlangen nach unbeschränkter Freiheit – dies sind zwei romantische Forderungen, denen auch heute noch in verschiedensten Lebenslagen eine wichtige Bedeutung zukommt.

Kritisch Stellung beziehen gegenüber Themen wie Volk, Heimat, Gesellschaft und Staat – wie dies möglich werden kann, zeigen uns die literarischen Epochen des Vormärz und des Biedermeier.

Unser Weltbild verändert sich je nach Lebensphase, in der wir uns aktuell befinden. Einmal dominieren die Schattenseiten des Lebens wie in der Epoche des Naturalismus, ein andermal überfällt uns eine resignative Stimmung wie im Realismus. Nicht immer ist das Leben ein Zuckerschlecken, immer wieder mal macht sich eine Weltuntergangs-Stimmung breit wie im Zeitalter des Expressionismus.

Ob im Literaturunterricht erarbeitet oder auf der Bühne miterlebt: Immer wieder verhilft uns die Literatur zu tragfähigen Lebens-Konzepten, die tröstlich und aufbauend sicherer Hort und Leuchtturm gleichermassen sein können.

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig