Literatur-Hängert mit der Lyrikerin und Malerin Myriam Stucky-Willa

Literaturexperte Kurt Schnidrig empfängt die Lyrikerin und Malerin Myriam Stucky-Willa zum Literatur-Hängert. (Bild: zvg)

Den „Literatur-Hängert“ können Sie in ungekürzter Form als Podcast auf pomona.ch/rro jederzeit ungekürzt hören. Nachfolgend eine teils verschriftliche Fassung.

Kurt Schnidrig: Myriam Stucky-Willa, wir beide kennen uns ja schon seit Kindergarten-Zeiten. Du hast immer geschrieben, wir kennen dich als Lyrikerin. Du warst auch in vielen Literatur-Gremien, in Zürich, im Kollegium Brig. Die Aufzählung ist wohl nicht vollständig…

Myriam Stucky-Willa: Ja tatsächlich muss man da weit ausholen. Ich hatte dreissig Jahre lang in Zürich gelebt. Dort hatte ich für meine Gedichte ein dankbares Publikum gefunden. In Zürich entstand dann auch das erste Buch „Brennende Ufer“. Ein  paar weitere Bücher folgten. Der Zürcher Schriftstellerverband wählte mich dann in den Vorstand. Die Zürcher fanden meine Rhetorik als geeignet, um für Schriftstellerinnen und Schriftsteller immer wieder sogenannte „Einführungen“ abzuhalten, ab und zu gab ich auch Einführungen für malende Künstler*innen. Die Zeit in Zürich war eine reichhaltige und bewegte Zeit. Ich hatte in Zürich viele interessante Menschen kennengelernt, vor allem auch aus Deutschland, Österreich und Polen, schwerpunktmässig aber natürlich aus der Schweiz. Vom Ethnologen über den Kaminfeger bis zum IKRK-Arzt waren da viele Menschen vertreten, eine breite Palette. Doch irgendwann hatte ich dann das Bedürfnis, mich meinen eigenen Projekte zuzuwenden.

Was lässt sich unter „Einführungen für Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ genau verstehen?

Zum Beispiel musste ich innerhalb einer Zeitspanne zwei Literaten vorstellen. Ich erhielt dann von den Schreibenden ihre Bücher, die blätterte ich durch und machte mir ein Bild vom Schriftsteller oder von der Schriftstellerin. Ich stellte eine Kurzfassung meiner Überlegungen her. Diese meine Kurzfassungen hatte ich in Kunstzentren und in Bibliotheken zu präsentieren.

Welche Funktionen und Ämter hattest du in Zürich inne?

Die Funktionen, die ich innegehabt habe, waren zu dieser Zeit ehrenamtlich. Es ging vor allem darum, für Literatinnen und Literaten eine Laudatio zu halten. Dafür hat man mich angefragt und ausgewählt.

Auch im Kollegium Brig warst du in einer Jury?

Am Kollegium Brig war ich Jurymitglied zusammen mit zwei, drei anderen Personen. Während des Sommers habe ich viel Post bekommen. Es handelte sich um Wettbewerbs-Texte, die ich zu analysieren hatte. Es ging auch darum, Punkte für die eingesandten Texte zu verteilen. Die Jury amtete völlig diskret, untereinander hatten wir uns nicht ausgetauscht. Das hätte ich auch nicht zugelassen.

Myriam, wie bist du persönlich zur Literatur gekommen? Hattest du Kontakte zu Verlegern und zu Literaten?

Vor allem wurde ich eingeladen vom damaligen Czernik-Verlag. Diesen Verlag gibt es heute nicht mehr. Der Czernik-Verlag wurde 1974 in Lossburg im Schwarzwald von dem Verlegerpaar Inge Czernik (1941-1993) und Theo Czernik (1929-2013) gegründet. Ich hatte zu dieser Zeit allerdings noch andere Dinge in meinem Leben, die mir wichtig waren. Deshalb habe ich mich dann von dieser Arbeit zurückgezogen.

Du hast auch beim Nimrod-Verlag deine Gedichte veröffentlicht, bei einem Zürcher Verlag…

Ja, das stimmt. Und dazu gibt es eine lustige Geschichte zu erzählen. Ich hatte damals ein Manuskript erarbeitet und wollte es einfach einmal dem Verleger, einem Herrn Zimmermann, zeigen. Ich fragte ihn, ob ich ihm das Manuskript so ganz diskret mal zeigen dürfe. Da fertigte mich Herr Zimmermann mit den Worten ab: „Sie gehören wohl eher in ein Schauspielhaus!“ Ich blieb hartnäckig, gab eine Lesung und wartete dann gespannt auf das Ergebnis. Da wurde Herr Zimmermann hellhörig, er wunderte sich dann doch, was da alles auf meinen Blättern steht. Ich bekam von Herrn Zimmermann einen Anruf. Seine Frau sei Literatur-Professorin, sagte er, sie heisse Rosmarie Zimmermann, und sie wäre gewillt, mit mir ein Buch zu machen. So entstand mein zweites Buch „Landlos“.

Sprechen wir von deinem Buch „Landlos“. Landlos, du verstehst darunter vor allem die Zeit, die vergeht und verrinnt?

„Landlos“ ist ein weiter Begriff. Jede und jeder darf sich etwas Eigenes darunter vorstellen. Was „Landlos“ für mich bedeutet? Ich schrieb zu dieser Zeit sehr unterschiedliche Gedichte, verschiedenste Sinneswahrnehmungen kleidete ich in lyrische Formen. Für alle diese meine Arbeiten suchte ich einen neutralen Titel. Irgendwie war alles in meinem Leben damals aus den Fugen geraten. Ich fühlte mich „heimatlos“ und „landlos“. Damit war der Titel geboren.

Auch das Träumerische ist in deinen Gedichten vorhanden. Zum Beispiel in diesem Sommergedicht: „Wie köstlich deine Tage, kaum geboren, ich möchte deinen blauen Himmel sehen, deinen warmen Atem spüren, in deinen Gärten wandeln, auf deinen Flügeln in die Ferne schweifen“ – spielt da auch die Sehnsucht nach der grossen weiten Welt mit?

Diese Sehnsucht war immer in mir und sie ist auch heute noch in mir. Ich bin „landlos“, aber nicht bodenlos. Aufgrund meiner unterschiedlichen Wahrnehmungen spüre ich viele verschiedene Talente in mir. Jeder, der schreibt, hat wohl dieses Empfinden. Es ist das Weittragende, das Unendliche. Man versucht etwas Unsterbliches auf dieser Welt zu erhaschen. Und dies, obschon unter unseren Füssen brüchiger Boden ist. So habe ich dann meine Träume gesponnen und in Gedichtform verpackt. Ich habe zu Papier gebracht, was mich im Augenblick bewegt hat: Todesfälle, traurige Ereignisse oder auch viel Erbauliches und Fröhliches. Dies war mein Weg, den ich gegangen bin.

Wie bringst du deine Träume und deine Erlebnisse aufs Papier? Wie gehst du dabei vor? Schreibst du zu gewissen Zeiten? Oder benutzt du beim Schreiben gewisse Techniken?

Nein, ich benutze keine Techniken. Ich schreibe eigentlich direkt „von der Seele in die Hand“. Ich habe viel während der Nacht geschrieben. Danach war ich süchtig, es war eine Art Passion, des Nachts zu schreiben. Während meine Kinder schliefen, hatte ich bewusst oder unbewusst das Gefühl, dass mich die Gedanken besuchen. Manchmal waren Gedanken darunter, die mich die halbe Nacht gequält haben. Da hat dann nur das Meditieren geholfen. Als ob ein Pfeil durch das gesamte Universum schnellte, so fühlte ich mich. Ich hatte immer einen Kugelschreiber und ein Block Papier bei mir. Meine Texte entstanden überall, auch im Flugzeug. Zum Beispiel hatte ich ein Jerusalem-Gedicht hoch oben auf 10‘000 Metern geschrieben. Es hat für mich aber nie Zeiten gegeben, in denen ich schreiben musste. Ich schreibe, wenn ich frei bin wie ein Vogel. Ich hasse es, wenn ich zu etwas gezwungen werde, wenn man mich „in einen Käfig einsperren“ will. Unter Druck geht bei mir gar nichts. Ich bin sehr freiheitsliebend.

Sprechen wir noch über deinen Gedichtband „Brennende Ufer“. Auf dem Klappentext ist zu lesen: „Ich liebe das Wort, ich liebe die Wahrheit, Schreiben ist für mich der Quell allen Seins.“ Wie wichtig ist das Schreiben für dich tatsächlich?

Das Schreiben war seit jeher für mich sehr wichtig. Angefangen hat es mit Buchstaben. Mit Buchstaben lassen sich Wörter formen. Aus den Wörtern entstehen Geschichten. Die Buchstaben-Suppe meiner Grossmutter hat mich dabei motiviert. Meine Grossmutter weckte in mir die Liebe zum Wort und zu den Büchern. Ich habe auch immer viel gelesen, ich war eine Leseratte. Zu Weihnachten hatte ich mir immer Bücher gewünscht. Dabei hat mich ein Buch ganz speziell geprägt. Das Buch heisst „Petra der Klassenschreck“. Darin gibt es eine Protagonistin, die tun darf, was sie will. Ich habe dann versucht diese Figur nachzuahmen. Und persönlich hatte ich ja dann auch meine Trotzphasen…

Was bedeutet das Schreiben für dich?

Schreiben bedeutet für mich ein Aussteigen aus dem Alltag, ein Loslassen vom Alltag. Ich kann meine Wahrnehmungen auf das Papier bringen. Ich mag es, beispielsweise den Duft einer Rose in Wörter zu verpacken. Auch Begegnungen und alles, was das Leben ausmacht, das Leben in allen seinen Facetten, das möchte ich schreibend festhalten.

Alles, was das Leben ausmacht? Gehört da auch die Aktualität dazu? In deinem Buch „Landlos“ findet sich zum Beispiel ein Gedicht über Heimatlose. „Heimatlose wohin man schaut, wie Samen verweht in alle Welt, Sehnsucht im Herz, Hoffnung, dass das Schicksal Wurzeln schlägt irgendwo auf dieser Erde…“

Diesen Text habe ich vor Jahren geschrieben. Jede und jeder von uns fühlt sich manchmal irgendwie heimatlos. Was aber zurzeit auf der Welt passiert, das ist verheerend. Es gibt unglaublich viele Heimatlose und Vertriebene. Das Kriegsgeschehen ist sowas von unnötig! Es sind dies jedoch die Quellen, aus denen ich als Schreibende schöpfe. Das Gedicht bleibt somit immer zeitgemäss.

Unter dem Titel „Drehspiegel“ hast du auch Aphorismen herausgegeben. Da stehen Sätze, die zum Studieren und Nachdenken anregen. Zum Beispiel: „Hinter jeder Maske ein verlorenes Gesicht.“

Ich überlasse es dem Lesenden, was er oder sie da hineininterpretieren möchte. Viele Menschen laufen mit einer Maske durchs Leben. Die Maske ist ihre Tarnung.

Oder dieser Satz: „Jede Stunde hebt einen Schleier mehr.“

Wir leben in einem Zeitfenster. Man wacht morgens auf, abends legt man sich zur Ruhe. Unser Leben ist geprägt von Ritualen. Aber jeder Tag eröffnet uns neue Perspektiven, Visionen und Wünsche. Man sieht je länger je klarer. Je älter man wird, verschwinden die verschiedenen Schleier. Man wird mit jedem Tag weniger, man geht dem Tod entgegen. Man hat das Bedürfnis, das, was war, hinter sich zu lassen, aufzuräumen.

In deinem Buch „Drehspiegel“ finden sich auch Aphorismen, die mich schmunzeln lassen, besonders wenn es um einen Tabu-Bruch geht. „Nichts ist reiner als verbotene Liebe, wer sie kennt, weiss um ihre Kraft.“

Mamma mia! (lacht) Da hatte ich dannzumal mit dem Pfarrer von Wallisellen ein ziemlich heftiges Gespräch. Der Pfarrer kam an meine Lesung in der Bibliothek Wallisellen, und er hat mich auf diesen Aphorismus angesprochen. Ich hatte dann zum Herrn Pfarrer gesagt, er müsse doch gar nicht so weit suchen gehen, er brauche doch nur in die Bibel zu schauen. Wie war das mit Maria Magdalena und Jesus?

Du bist Lyrikerin und Malerin. Wie hängt das zusammen? Deine Gedichte und deine Bilder – hat das eine mit dem anderen zu tun?

Es gibt da eine Schnittstelle, einen schnellen Übergang vom Wort zum Bild. Egal, ob man schreibt oder malt, am Anfang steht immer eine Sinneswahrnehmung. Die Wahrnehmung schreibe ich nieder in Wortform oder ich male. Ich spreche dann vom „gemalten Wort“ oder vom „geschriebenen Bild“. Da besteht tatsächlich eine Verbindung.

Seit längerer Zeit haben wir keine Vernissagen mehr von dir erleben und besuchen dürfen. Was ist der Grund dafür?

Ich brauchte einfach diese Zeit des Schweigens und der Stille. Aufgrund von Todesfällen und anderen Ereignissen war ich anderweitig beschäftigt und absorbiert. Schöpferisch hatte ich aber deswegen keinen Stillstand. Ich habe auch weiterhin geschrieben und gemalt. Aber da war eine „Blockade“. Verantwortlich dafür war auch ein schreckliches Ereignis: Anlässlich einer Vernissage hat jemand vier meiner Bilder zerstochen. Die Stiche gingen mitten ins Herz der Bilder, egal ob quadratisch oder rechteckig, jemand wollte meine Bilder mitten ins Herz treffen. Ich hatte Anzeige gegen Unbekannt eingereicht. Die Kriminalpolizei versuchte herauszufinden, wer meine Bilder zerstört hatte. Dieser Vorfall hat mir „den Wind aus den Segeln genommen“. Dieser Vorfall hat mich deprimiert. Es kommt dazu: Ich war auch nicht mehr bereit, Lesungen abzuhalten ohne Honorar. Dabei geht es um den Respekt. Als Mitglied von „Autorinnen und Autoren der Schweiz“ hat man mir eingeprägt: Einzig für gute Zwecke liest man ohne Honorar. Wie gesagt, dabei geht es um Respekt und um Anerkennung.

Deine lyrischen Texte sind teils brennend aktuell und zeitgemäss. So etwa dein Gedicht über Europa aus dem Buch „Landlos“. Gibst du uns bitte eine Kostprobe?

„EUROPA – Du bist auf Sendung – DU – Eigenartige – Verletzte – Oft Missbrauchte – Deine Wunden – Vernarben schwer – Deine meeroffenen Küsten – Reichen weit – Ausgesetzt – In den Vorgärten – Der Mächtigen – DU – Alternde Neue – Deine Geschichte – Trägt Spuren im Gesicht -„

Aus: „Landlos“, Seite 74

Vielen herzlichen Dank, Myriam Stucky-Willa, für das offene und denkwürdige Gespräch.

Bild, Text und Radiosendung: Kurt Schnidrig