Der Literatur-Hängert: Zu Besuch beim Schweizerischen Idiotikon in Zürich

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Die Mundartforscherin Gaby Bart führte durch die Räume des Schweizerischen Idiotikons und präsentierte ein Jahrhundertwerk. (Bild: rro)

Sie sind fasziniert von unseren Dialekten und forschen beim Wörterbuch der Schweizerdeutschen Sprache: Gabriela Bart und Sandro Bachmann, beide mit Oberwalliser Wurzeln. Ein Besuch beim Idiotikon in Zürich.

Kurt Schnidrig   

Das Schweizerische Wörterbuch (Idiotikon) dokumentiert die deutsche Sprache in der Schweiz vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart, die älteren Sprachstufen genauso wie die lebendige Mundart. Das Schweizerische Idiotikon ist Arbeitsinstrument für verschiedenste Wissens­gebiete wie Sprach-, Geschichts- und Rechtswissenschaft, Volks- und Namenkunde.

Das Wallis ist für das Wörterbuch als Dialektregion wichtig. Neuerdings arbeiten auch zwei Forschende mit Oberwalliser Wurzeln im Team des Schweizerischen Idiotikons mit Chefredaktor Christoph Landolt. Es sind dies Gabriela Bart, eine Lötschentalerin mütterlicherseits, und der Visper Sandro Bachmann.

Faszination Mundart

Sandro Bachmann ist begeistert und angetan von den Dialekten: „In der Schweiz gibt es so viele verschiedene Dialekte, so verschiedene Ausprägungen. Ich empfinde diese Situation als extrem spannend, gerade auch, weil wir auf so kleinem Raum eine derart grosse Vielfalt von Dialekten haben. Häufig heisst es, man verstehe uns Schweizer nicht. Aber es kommt vielfach auch darauf an, woher man kommt. Es ist diese Situation, die in mir das Interesse an den Dialekten geweckt hat. Ich bin nun noch einen Schritt weiter gegangen und habe das alles aus einer fachlichen Richtung betrachten wollen.“

Der Oberwalliser Sandro Bachmann ist überzeugt, dass die Dialekte nicht verschwinden werden. „Die Fakten dazu sind komplexer als bisher gemeinhin angenommen“, sagt er. (Bild: rro / Kurt Schnidrig)

Sandro Bachmann ist ein gebürtiger Visper, und er ist auch in Visp aufgewachsen. An der Universität Zürich hat er Sprachwissenschaften studiert. Während des Studiums habe er realisiert, dass ihn vor allem die Dialekte interessieren, sagt er. Später wandte er sich der Germanischen Philologie zu, wo Dialekte ein wichtiger Bestandteil sind. Aufgrund dieser Arbeit ist er dann nach Zürich zum Idiotikon gekommen.

Die Begeisterung für die Mundart verlaufe wellenartig, stellt Gabriela Bart fest. In den vergangenen Jahren sei in den Zeitungen viel darüber berichtet worden, auch am Radio und am Fernsehen. In der Schweiz komme der Mundart ein ganz besonderer Stellenwert zu. Wer mit jemandem spricht, erkennt dessen Herkunft oftmals bereits am Dialekt: „Ah, du bist aus dem Wallis?“ oder „Ah, du kommst aus Basel?“ oder „Du bist aus der Ostschweiz?“ Nicht alle Dialekte würden allerdings in gleichem Masse wahrgenommen, weiss Gabriela Bart. Als Walliserin werde ich relativ sofort erkannt, aber als Zugerin werde ich von fast niemandem erkannt, weil die Zuger nicht so einen definierten Dialekt haben wie zum Beispiel die Walliser mit dem Walliserdialekt, insbesondere mit dem „Leetschertitsch“.

Das Lötschental sei ihre zweite Heimat, sagt Gabriela Bart. „Meine Mutter ist eine Lötscherin aus Wiler. Ich bin aber nicht in Lötschen aufgewachsen, sondern im Kanton Zug. Mein Vater stammt aus Baar im Kanton Zug. Den Lötschentaler Dialekt habe ich gelernt von meiner Mutter und auch von meinen Verwandten.“

Schon früh habe sie zwei Dialekte gesprochen, erzählt Gabriela Bart. „Ich kann Zuger Dialekt und Lötschentaler Dialekt. Ich kann von einem zum anderen Dialekt wechseln.“ Immer, wenn sie in die Ferien nach Goppenstein gefahren sei, da habe sie zu ihrer Mutter gesagt: „Jetzt wieder einmal anders reden!“ So habe sie die Faszination für den Dialekt schon immer begleitet. Während ihres Studiums habe sie sich dann mit der Mundartforschung auseinandergesetzt. Auch in ihrer Doktorarbeit hat sich Gabriela Bart mit dem Dialekt des Wallis und insbesondere mit dem Dialekt des Lötschentals befasst. Vor allem habe sie sich mit dem Genitiv befasst, so wie man ihn eigentlich nur noch im Wallis oder im Bündnerland braucht, zum Beispiel „ds Vatersch Hüet“, „ds Doktersch Auto“ etc. Dieser Genitiv werde nördlich der Alpen fast nirgends mehr gebraucht. In Zug würde man sagen: „Dem Vater siin Huet“ oder dem „Doktor siis Auto“ oder „der Huet vom Vater“.

Vom 13. Jahrhundert bis heute

Der Begriff Idiotikon stammt aus dem 18. Jahrhundert. Etymologisch geht das Wort auf griechisch idios ‘abgesondert, eigen, privat’ zurück; ein Idiotikon ist also ein ‘Verzeichnis der einer gewissen Landschaft eigenen Wörter und Ausdrücke, die gesammelt und erklärt werden.

Das Schweizerische Idiotikon basiert auf älteren und jüngeren Quellen. Ältere Quellen datieren vom 13. Jahrhundert bis 1799. Dabei handelt es sich vor allem um Rechtsquellen, Chroniken, biblische Texte usw. Aber auch die jüngere Mundartliteratur hat Eingang gefunden. Vertreten sind beispielsweise Romane, die in Mundart geschrieben worden sind, oder regionale Wörterbücher. Aus dem Wallis zum Beispiel Wörterbücher von Zermatt oder von Visperterminen. Auch das Walserdeutsche Wörterbuch ist eine wichtige Quelle.Neu hinzukommen heute auch Zeitungsartikel, die in Mundart geschrieben werden.

Chefredaktor Christoph Landolt inmitten der Bibliothek mit den bisherigen 16 Bänden des Idiotikons und anderen Wörterbüchern. (Bild: rro / Kurt Schnidrig)

Das Idiotikon wurde vor mehr als 150 Jahren gestartet. Man hatte damals mit dem A begonnen. Mittlerweile ist man beim Z angelangt. Die ursprüngliche Erhebung und Sammlung von Wörtern und Ausdrücken ist damit zwar abgeschlossen. In den vergangenen 150 Jahren hat sich jedoch naturgemäss sehr viel verändert. Zum Beispiel ist in Band 1 mit A das Auto noch nicht drin. „Auto“ ist somit ein Nachtragswort, das man nun neu hinzufügen muss.

Viele Wörter sind in den letzten hundert Jahren verlorengegangen, weil sie nicht mehr in Gebrauch sind.  Dazu gehören etwa Namen für landwirtschaftliche Geräte, die man heute nicht mehr braucht. Andererseits kommen aber auch immer wieder neue Wörter hinzu, zum Beispiel aus dem Englischen oder aus der Computer-Sprache. „Bei vielen Wörtern, die wir in unseren Dialekt aufgenommen haben, ist man sich nicht mehr bewusst, dass sie eigentlich aus dem Englischen herstammen“, stellt Gabriela Bart fest. „So haben wir hier beim Schweizerdeutschen Wörterbuch eine grosse Sammlung von Nachtragsmaterial.“

Die Arbeit der Forschenden

Vor 150 Jahren erfolgte ein Aufruf an die gesamte Schweizer Bevölkerung, man solle mundartliche Wörter zu uns nach Zürich schicken, man wolle hier ein Wörterbuch daraus machen. Unsere Forschenden hatten dann bereits eruiert, wo das Wort überall vorkommt. Sie haben dann die Belege auf Zetteln erfasst. Diese Zettel werden seither in Schachteln aufbewahrt.

Viele Belege für das Schweizerdeutsche Wörterbuch sind noch handschriftlich auf Zetteln erfasst, erklärt Gabriela Bart. (Bild: rro / Kurt Schnidrig)

Wir besuchen Sandro Bachmann an seinem Stehpult. Auf dem Bildschirm vor ihm tauchen die Wörter „chöife“, „verchöife“ auf. „Ich bin nun jeden Zettel durchgegangen und habe mich vergewissert, woher das Wort stammt, in welchem Kontext das Wort steht und welche Bedeutungen das Wort haben kann. Auf diese Weise ensteht nun ein Artikel darüber“, erklärt er. „Der Artikel, den ich zurzeit bearbeite, befasst sich mit dem Wortfeld „Zoll“. Zurzeit lese ich die Fahnenabzüge, die später dann zu einem fertigen Artikel verarbeitet werden sollen. Ich bin damit in der letzten Arbeitsphase. Ende Jahr wird der Artikel erscheinen, und er steht dann den Lesenden zur Verfügung.“

Gabriela Bart steht vor einem der vielen Zettelkästen: „Ich habe jetzt eine Schachtel vor mir mit ganz verschiedenen Zetteln zum Wort „Zand“, die muss ich jetzt hier nochmals sortieren und ich versuche herauszufinden, ob es verschiedene Bedeutungen für das Wort „Zahn“ gibt. Es gibt den menschlichen Zahn, es gibt aber auch einen tierischen Zahn. Dann existieren auch verschiedene Werkzeuge, die einen „Zand“ haben, zum Beispiel der „Zand“ eines Rechens. Es gibt auch viele Redewendungen mit „Zand“, zum Beispiel: „är het Haar uf de Zänd“ etc. In einer Schachtel habe ich das gesamte Material zum Wort „Zand“ schon sortiert. Dazu auch Ausdrücke wie „eppis uf dem hohle Zand ha“, „uf die Zänd staa“.  Das Wort „Zahn“ erscheint auch in Zusammenhang mit dem Aber- oder Volksglauben, zum Beispiel dann, wenn ein Kind einen Zahn verliert, dann muss man den Zahn unter ein Kissen legen usw. All dies wird gesammelt und später dann in einem Artikel für den Leser oder die Leserin schön dargestellt.

Mit Band 17 ist Schluss

Mit bisher 16 abgeschlossenen Bänden und dem in Arbeit befindlichen 17. Band, die zusammen über 150 000 Stichwörter enthalten, ist das Schweizerische Idiotikon schon vor seinem Abschluss das umfangreichste Regionalwörterbuch im deutschen Sprachraum.

Das Gesamtwerk wird in gedruckter Form 17 Bände umfassen. Zurzeit werden noch alle Wörter mit „Z“ abgearbeitet. Dann stellt sich die Frage, wie mit all dem Nachtragsmaterial zu verfahren ist. Dieses Nachtragsmaterial wird dann in digitaler Form verarbeitet. So wird zum Beispiel ein Artikel wie „Auto“ da neu hineinkommen, denn „Auto“ ist im Band 1 bisher noch nicht enthalten.  

In Buchform ist also bereits vieles erhältlich und einsehbar. Die Digitalisierung macht jedoch auch nicht halt vor dem Schweizerdeutschen Wörterbuch. Allerdings ist es zurzeit noch ziemlich schwierig, sich im digitalen Wörterbuch zurechtzufinden. Wer sich das erste Mal da hineinklickt, wird mit Abkürzungen und speziellen Schreibweisen konfrontiert. „Unsere relativ grosse IT-Abteilung versucht jetzt, das digitale Wörterbuch leserfreundlich zu machen, so dass man sich zum Beispiel die Abkürzungen anzeigen lassen kann. Oder dass man sehen kann, wo ein Wort vorkommt, denn die Orte sind auch immer abgekürzt“, sagt Gabriela Bart.

Darum wird schon seit längerer Zeit die gedruckte Version des Wörterbuchs digitalisiert. Online auf idiotikon.ch kann man bereits alle Bände anschauen. Dazu gibt es auch ein Register. Man kann ein Wort eingeben, dann wird die Seite aus dem betreffenden Buch genau angezeigt. Ein Ziel ist aber auch, das digitalisierte Wörterbuch auch noch leserfreundlicher zu gestalten, so dass es auch für allgemein Interessierte gut lesbar und allgemein verständlich ist.

Der Sprachatlas

Der Dialekt ist eine unversiegbare Quelle für Forschungsarbeiten. Viele spannende Forschungsfelder liegen noch brach. Ein Projekt des Schweizerdeutschen Wörterbuchs ist der Sprachatlas der deutschen Schweiz. „Wir haben hier das Archiv des gesamten Materials für den Sprachatlas. Vor rund 70-80 Jahren hat man in der ganzen Schweiz über 20 Jahre lang eine Erhebung durchgeführt. Man ist von Ort zu Ort gereist, hat der Bevölkerung Fragen gestellt und danach alles auf Karten dargestellt“, sagt Gabriela Bart.  

Auf einer der Karten im Sprachatlas sind zum Beispiel die Antworten auf die Frage dargestellt: Wie sagen Sie für „die Blumen giessen“? Im Lötschental heisst das zum Beispiel „die Bluemen pschittn“. So sind Karten entstanden für die gesamte deutsche Schweiz und für die Südwalser-Orte.

„Wir haben das Archiv des gesamten Materials für den Sprachatlas“, sagt Gabriela Bart. (Bild: rro / Kurt Schnidrig)

Leider war das Material des Sprachatlasses für das Volk lange nur in Buchform zugänglich. Die IT-Abteilung hat das Material des Sprachatlasses nun digitalisiert, sowohl das Originalmaterial als auch die Karten. Das gesamte Material ist auf sprachatlas.ch einsehbar. Man kann dabei bestimmte Darstellungs-Optionen wählen, man kann die Originalkarten betrachten oder auch farbige Flächenkarten. Darauf lässt sich erkennen, wo man das Wort „pschittn“ braucht, oder wo man „d Blueme güüsse“ sagt usw.

Ortsnamen und Familiennamen

Was bedeuten unsere Oberwalliser Flur- Ortsnamen und woher stammen sie? Bis jetzt ist auf ortsnamen.ch das Oberwallis noch nicht vertreten. In naher Zukunft wird aber ein Oberwalliser Flurnamenbuch erscheinen. „Wir werden bestimmt versuchen, Material daraus auch auf ortsnamen.ch abrufbar zu machen“, sagt Gabriela Bart. Bis jetzt sind das Zuger Ortsnamenbuch, das Berner Ortsnamenbuch und das Thurgauer Ortsnamenbuch bereits erfasst.

Auch seitens der Familiennamen besteht seitens der Nutzer ein immenses Interesse. „Familiennamen werden auf Wunsch von uns bearbeitet“, sagt Gabriela Bart. „Wir arbeiten da auch zusammen mit dem Schweizer Radio. Es sind die Hörerinnen und Hörer, die uns um Erklärungen von bestimmten Familiennamen bitten.“  Das bearbeitete Material kann man auf der Website familiennamen.ch als Zusammenfassung nachlesen und nachhören.

„Unsere Dialekte werden nicht verschwinden“

Trotz aller Faszination sind auch immer wieder Unkenrufe zu hören, die befürchten, dass die Dialekt eingeebnet würden oder gar ganz verschwinden. Wie sehen die Mundartforschenden die Zukunft unseres Dialekts?

Sandro Bachmann hat dazu eine klare Meinung: „Dies wird sicher nicht passieren. Die Fakten dazu sind etwas komplexer als gemeinhin angenommen. Es kommt auch darauf an, welchen Bereich des Dialektes man betrachtet. Zum Beispiel ist der Wortschatz tatsächlich ein Bereich, der sich etwas einebnen wird, vor allem wohl deshalb, weil wir in der Schweiz viel mobiler geworden sind. Man passt sich an andere Dialekte und Sprachen an. Im Bereich der Grammatik findet die Einebnung und Anpassung sicher auch statt, aber viel weniger, weil wir uns der Grammatik weniger bewusst sind und weil sich die Besonderheiten der Grammatik viel weniger schnell wandeln. Es lässt sich nachweisen, dass der Sprachwandel in den verschiedenen Bereichen der Sprache unterschiedlich schnell abläuft.“

Hören Sie die Gespräche mit Gabriela Bart und mit Sandro Bachmann im Originalton als Podcast. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Joel Bieler)

Der Literatur-Hängert ist auch im Online-Portal von pomona.media/rro erschienen, wo er ebenfalls jederzeit nachgehört werden kann.

Text, Bilder und Radiosendung: Kurt Schnidrig