Vernissage von Nicolas Eyers neuem Erzählband: „Ich bin dem Land Japan ganz einfach verfallen.“

Mit „Natsuko verschwindet“ präsentierte Nicolas Eyer in der ZAP Brig seine bereits dritte Japan-Geschichte. (Bild: rro / Kurt Schnidrig)

Der Autor verpackt die Themen „Sehnsucht“ und „Suche“ in eine Geschichte, die irgendwo in Japan spielt. Shinji, der männliche Protagonist, macht sich auf die Suche nach seiner Geliebten Natsuko, die plötzlich verschwunden ist. Die Sehnsucht nach Natsuko begleitet Shinji auch noch ein halbes Jahr lang nach ihrem Verschwinden. Spät erst geht er einem Hinweis nach, der das Wo und das Warum von Natsukos Verschwinden ehellt.

Kennengelernt haben sich die beiden jungen Leute an einer Universität. Eine Vorlesung über den Philosophen Immanuel Kant scheint Auslöser und Türöffner gewesen zu sein. So idealistisch wie Kants Kategorischer Imperativ, so idealistisch ist die Sichtweise der Protagonistin Natsuko. Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte, philosophierte Kant. Und Natsuko geht entsprechend, bewusst oder unbewusst, ihren Weg konsequent, überlegt und selbstbestimmt.

Natsuko ist eine Idealistin, eine Humanistin. Der Autor scheut vor einer überzeichneten Charakterdarstellung seiner weiblichen Protagonistin keineswegs zurück. Als wichtige Ideenträgerin steht sie stellvertretend für eine Problematik innerhalb der heutigen Gesellschaft: Idealistisch veranlagte Menschen mit Utopien und Phantasien sind gefährdet.

Für einen Tag lang wollen die Beiden ans Meer fahren. Es ist dies auch der Tag, an dem Natsuko verschwindet. Der Tag auch, an dem Shinjis Trauer über das Verschwinden anhebt.

Wir begleiten als Lesende den Protagonisten Shinji auf der Suche nach Natsuko. Die Suche führt uns an geheimnisvolle Orte, auch in eine Ruine zwischen Meer und Vulkankrater.  

Der Atombomben-Abwurf auf Hiroshima und Nagasaki kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs spielt in die Geschichte hinein. Natsukos Angehörige haben an dessen Spätfolgen zu leiden. Die Botschaft „Nie wieder Krieg“ lässt sich zwar zwischen Zeilen herauslesen, eine Weltverbesserungs-Story aber ist „Natsuko verschwindet“ denn doch nicht.

Vielmehr weist die Geschichte auf eine beunruhigende Zeiterscheinung hin. Es ist dies die beelende Feststellung, dass in allen gegenwärtigen Konflikten und Kriegen immer auch Unschuldige die Opfer sind, die Zivilbevölkerung, vor allem aber auch Frauen und Kinder.

Wer trägt die Schuld, dass jemand plötzlich nicht mehr unter uns weilt? Die Erzählung dreht sich zentral um das Thema „Schuld“. Insbesondere ist es die Angst davor, schuldig geworden zu sein, die den Protagonisten bedrängt und bedrückt. Der Protagonist Shinji hat sich immer wieder der Schuldfrage zu stellen: Habe ich etwas getan oder gesagt, das Natsuko derart verärgert hat, dass sie sich genötigt sieht, zu verschwinden?

Mit dem Vorwurf, an Natsukos Verschwinden Schuld zu tragen, lässt sich nur schwer weiterleben, und irgendwann beginnt Shinji gar selbst an eine mögliche Schuld seinerseits zu glauben.

Die Erzählung „Natsuko verschwindet“ lässt ein Ende vermissen. Auch die Erwartungen der Leser:innen bezüglich eines glücklichen Endes erfüllen sich nicht. Trotzdem wirkt die Geschichte in dieser Form rund, sie weist über sich hinaus und inspiriert die Lesenden zum Weiterdenken und Weiterphilosophieren. 

Das Buch „Natsuko verschwindet“ ist geprägt von einer überschäumenden Faszination für Japan, für dessen Kultur, für Land und Leute, für die japanische Lebensweise. Der Autor hat sich auf vier Japanreisen von landschaftlichen Besonderheiten, von Örtlichkeiten und im Nachhinein auch für den Plot inspirieren lassen.

Dennoch erzählt der Autor aus der Perspektive eines Aussenstehenden, dessen Sehnsuchtsort das Land der aufgehenden Sonne ist. Das japanische Schrifttum hingegen hat auf seinen Erzählstil kaum einen Einfluss ausgeübt.

(Nicolas Eyer: Natsuko verschwindet. Erzählung. 112 Seiten. Edition Signathur, 2024)    

In der Buchhandlung ZAP in Brig stellte sich Nicolas Eyer den Fragen seines Kollegen Anton Rey. (Bild: rro / Kurt Schnidrig)

Nicolas Eyer im rro-Interview: „Vor allem geht es um die Angst, schuldig zu sein.“

Interview: Kurt Schnidrig

Kurt Schnidrig: In der Erzählung „Natsuko verschwindet“ geht es vordergründig um eine Liebesgeschichte. Der Krieg gibt den Hintergrund ab für Ihre Erzählung. Was steht für Sie im Vordergrund?

Nicolas Eyer: Für mich ist es in erster Linie eine Geschichte von Sehnsucht und von Suche. Shinji, der männliche Protagonist, startet eine Suche nach Natsuko, die plötzlich verschwunden ist. Es ist also eine Geschichte von einer Suche, gleichzeitig aber auch eine Geschichte von einer Sehnsucht. Denn Shinji spürt auch noch ein halbes Jahr nach ihrem Verschwinden, dass er nicht ohne sie leben kann. Sobald ein neuer Hinweis kommt, wo und warum sie verschwunden sein könnte, geht er diesem Hinweis nach.

Natsuko ist eine Idealistin, die den Menschen helfen möchte. Geht es in Ihrer Geschichte auch darum, dass Menschen mit Utopien und mit Phantasien in unserer Gesellschaft gefährdet sind?

Das ist so. Ich glaube, wenn man idealistisch veranlagt ist, ist man immer gefährdet. Bei Natsuko ist es vielleicht sogar so, dass sie eine überzeichnete Idealistin ist. Ich habe die Figur der Natsuko auch bewusst überzeichnet. In unserer heutigen Zeit ist der Idealismus auch noch mehr en vogue.

Die Atombombe von 1945, an deren Folgen auch Verwandte von Natsuko immer noch leiden, und vor allem auch der Wunsch „Nie wieder Krieg“ – ist dies die Botschaft, die Message, die Ihr Buch verbreitet?

Ich weiss nicht, ob „Message“ das richtige Wort ist, denn ich möchte nicht missionieren. Ich sehe mich als Autor auch nicht unbedingt beauftragt, die Welt verbessern zu wollen. Was mich beunruhigt und beelendet in heutiger Zeit ist die Feststellung, dass in allen gegenwärtigen Konflikten immer auch Unschuldige, Frauen, Kinder, Zivilbevölkerung die Opfer sind. Vor allem darauf möchte ich mit meinem Buch hinweisen.

„Natsuko verschwindet“ – dies der Titel der Erzählung. Zu viel verraten wollen wir nicht. Die Frage sei aber doch gestellt: Dreht sich die Erzählung auch um die Thematik „Schuld“? Wer trägt die Schuld, dass jemand plötzlich nicht mehr unter uns weilt?

Es geht definitiv um Schuld. Vor allem geht es auch um die Angst, schuldig zu sein. Shinji stellt sich dieser Frage mehr als einmal. Habe ich etwas getan oder etwas gesagt, das Natsuko derart verärgert hat, dass sie einfach verschwindet? Die Eltern von Natsuko teilen Shinji bei einem Treffen auch deutlich mit, dass ihrer Meinung nach er die Schuld an Natsukos Verschwinden trage. Die Vorwürfe bleiben bestehen, so lange, dass Shinji selbst an seine Schuld zu glauben beginnt.

Nicolas Eyer, sie waren selbst mehrmals in Japan. Im Jahr 2015 zu ersten Mal und seither vier weitere Male. Sie haben auch schon früher Erzählungen mit japanischem Hintergrund verfasst, ich denke an „Kaguya“ oder an „Kamikochi“. Was fasziniert Sie an Japan?

Ich kann meine Faszination an diesem Land nicht an einzelnen Dingen festmachen. Es ist etwa so, als ob man jemanden fragen würde: Warum liebst du deine Partnerin oder deinen Partner? Es ist ein Bauchgefühl, ich bin diesem Land Japan ganz einfach verfallen. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Es ist alles, was mich fasziniert: Die Kultur, die Landschaft, die Menschen, das Essen… Japan ist für mich ein Sehnsuchtsland geworden und bis heute geblieben.

Drei Einzelbände über Japan sind bereits entstanden, eine Trilogie gewissermassen. Ist eine Fortsetzung geplant?

Eine Trilogie war nicht angedacht, es hat sich einfach ergeben. Aber zurzeit habe ich andere Texte im Kopf, die nicht unbedingt in Japan spielen. Ob ich wieder einmal eine Japan-Geschichte schreibe? Ausschliessen möchte ich das nicht, denn meine Faszination für Japan wird bleiben.

Möge sich Ihre Faszination auch auf Ihre Leserinnen und Leser übertragen. Vielen Dank für das Gespräch.

Hören Sie dazu den Podcast aus der Sendung „Literaturwelle“ auf Radio Rottu Oberwallis. (Quelle: rro / Karin Imhof / Kurt Schnidrig)

Text, Bilder und Radiosendung: Kurt Schnidrig