Im Jahr 1990 wurde die Schweizer Erzählnacht im Oberwalliser Kindergärtnerinnen- und Lehrerseminar aus der Taufe gehoben, zuerst als Oberwalliser Märchennacht, die 1995 zur Schweizer Erzählnacht ausgeweitet wurde. Im kommenden Jahr 2025 wird das 30 Jahre Jubiläum im Oberwallis gefeiert.
Rund 800 Erzählnacht-Veranstaltungen finden jeweils am zweiten Freitag im November in der ganzen Schweiz statt – so viele wie noch nie! Tausende Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden auch am Freitag, 8. November 2024, an der Schweizer Erzählnacht teilnehmen und gemeinsam Geschichten zu einem Motto hören und erleben, in diesem Jahr lautet das Motto «Traumwelten».
Die Schweizer Erzählnacht gehört damit zu den grössten Kulturanlässen unseres Landes. Für die Organisation und Koordination ist auch dieses Jahr das Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM, Bibliomedia Schweiz und UNICEF Schweiz und Liechtenstein verantwortlich. Schulen, Bibliotheken, Jugendtreffs, Gemeinschaftszentren und Kulturinstitutionen laden zur Schweizer Erzählnacht ein.
Ein Literaturprodukt aus dem Oberwallis
Die Entstehungsgeschichte der Schweizer Erzählnacht mit ihren Wurzeln im Oberwallis und deren Ausweitung zur Schweizer Erzählnacht ist mittlerweile auch wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Die Tessiner Erziehungs-Wissenschaftlerin Simona Girardi Bondiolihat darüber eine Masterarbeit an der Universität Rom verfasst, an der Università degli Studi Roma Tre.
Als Deutschlehrer am Oberwalliser Lehrerseminar und als Präsident des damaligen Oberwalliser Bundes für Jugendliteratur, einer Sektion des Schweizerischen Bundes für Jugendliteratur, war der Schreibende (Kurt Schnidrig) im Jahr 1995 nationaler Projektleiter der 1. Schweizer Erzählnacht, unterstützt vom damaligen Zentralpräsidenten des Schweizerischen Bundes für Jugendliteratur, Peter Gyr. Im Jahr 1995 wurde somit die bereits seit 1990 bestehende „Oberwalliser Märchennacht“ offiziell zur „Schweizer Erzählnacht“ ausgeweitet.
Die Erzählnacht geriet bereits kurz nach der Gründung im Oberwallis zu einem wahren Happening: Hunderte Erzählerinnen und Erzähler erfreuten schon damals die Herzen des Publikums. Das gute Erzählen ist bis heute ein zentrales Anliegen geblieben. Vielerorts werden jedoch die Geschichten nicht nur erzählt. Ob mit Verwandlungen und Verkleidungen, ob mit Rollenspiel und oder mit musikalischer Begleitung – nach dem Grundsatz „überall gleich und doch verschieden“ gerät jede der Erzählnacht-Aufführungen zu einem originellen und kreativen Erzählprojekt.
Nach der Jahrtausendwendewurde der Bund für Jugendliteratur umgewandelt in das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM, das kantonale Sektionen unterhält. Das SIKJM koordiniert und organisiert seither die Schweizer Erzählnacht in Zusammenarbeit mit UNICEF Schweiz und mit Bibliomedia Schweiz.
Jubiläumsfeier in Planung
Im Deutschwallis möchten die Gründer der Schweizer Erzählnacht, insbesondere die Exponent:innen des damaligen Oberwalliser Lehrerseminars, im Jahr 2025 das 30-jährige Bestehen der Erzählnacht mit einer gebührenden Jubiläumsfeier begehen. Hunderte von Oberwalliser Erzählerinnen und Erzählern haben in den vergangenen 30 Jahren an der Schweizer Erzählnacht und davor an der Oberwalliser Märchennacht das Publikum in den Bann ihrer Geschichten gezogen. Sie alle sind herzlich zur Jubiläumsfeier im kommenden Jahr 2025 eingeladen. Ein Blick ins Archiv der Schweizer Erzählnacht und einige Zitate mögen die damalige Gründungs-Euphorie illustrieren.
- Am 28. November 1990 tauchte das Oberwallis erstmals in eine Nacht der Märchen. Die «Walliser Woche» schrieb: «Es dürfte erstmalig sein, dass eine geschlossene Landschaft wie das Oberwallis eine Märlinacht erleben wird.» (Raymund Wirthner in der Walliser Woche vom 16.11.1990)
- Im Jahr 1994 wählten die Mitglieder der Delegiertenversammlung des Schweizerischen Bundes für Jugendliteratur (SBJ) in La Chaux-de-Fonds den Initianten und Organisator der Oberwalliser Märchennacht, Kurt Schnidrig, zum Projektleiter der 1. Schweizer Erzählnacht. «Als nationaler Projektleiter an die Lesefront» titelte der Walliser Bote.
- Die Erinnerung an die Gründung der Erzählnacht ist bis heute im Oberwallis präsent. Unter dem Titel «Grundstein im Oberwallis» schrieb Journalistin Monika Bregy anlässlich der letztjährigen Erzählnacht in Naters: «Ihren Ursprung hat die Erzählnacht im Oberwallis, weiss die Leiterin der Gemeindebibliothek, Manuela Grichting: Der damalige Deutschlehrer Kurt Schnidrig organisierte Mitte der 1990er-Jahre in Zusammenarbeit mit Peter Gyr, ehemaliger Präsident des Schweizerischen Bundes für Jugendliteratur, die erste Erzählnacht.» (WB vom 13.11.2023)
Erzählnacht-Tradition am Ort der Entstehung
Im der Oberwallis Mittelschule OMS in Brig bereiten sich auch in diesem Jahr die Schülerinnen der Fachmaturität Pädagogik auf die Erzählnacht vor. Damit führen die Studierenden die Tradition der Erzählnacht fort, die vor bald einmal dreissig Jahren in diesen Räumlichkeiten, im damaligen Kindergärtnerinnen- und Lehrerseminar des Institut St. Ursula, begonnen hatte. Von hier aus hat das kreative Leseförderungs-Projekt aus dem Oberwallis alle vier Landesteile erobert.
Die Schweizer Erzählnacht am zweiten Freitag im November ist bereits seit langem der Höhepunkt einer zweimonatigen Vorbereitung auf das praktische Erzählen. Seit Schulbeginn stehen den Fachmaturand:innen durchschnittlich zwei Wochenstunden zur Verfügung, um sich auf ihren Auftritt vorzubereiten.
Viele Gemeinden im Oberwallis sind seit der Gründung der Erzählnacht immer wieder dabei, je nach Jahresplanung auch mal mit einem Unterbruch. Während der kommenden Erzählnacht am 8. November 2024 sind nebst den Erzählgruppen der Oberwalliser Mittelschule OMS auch die Erzählerinnen und Erzähler in der Primarschule Naters, in der Gemeindebibliothek Naters, in der OS Goubing in Siders und in den Schulhäusern von Salgesch und Turtmann aktiv. Weitere Anmeldungen sind beim Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM immer noch möglich.
An der Jubiläumsfeier 2025 wollen wir das Erzählen feiern. „Wir haben das Erzählen verlernt, weil wir nichts mehr sehen und hören. Alle haben Stöpsel in den Ohren und starren auf ihr iPhone“, schreibt der Mundart-Dichter Pedro Lenz. Die technologische Entwicklung gestaltet unser Leben je länger je effizienter und funktionaler. Aber was bedeutet unser Mensch-Sein wirklich? Es bedeutet auch: Sich der Fantasie hingeben und in die Anderswelt der Geschichten abtauchen. Statt der sozialen Netzwerke wieder vermehrt direkte Kontakte und die Nähe zu den Mitmenschen suchen. Den Mitmenschen zuhören, was sie uns zu erzählen und zu berichten haben. Das Erzählen neu entdecken und wieder neu lernen.
Text, Bild und Radiobeitrag: Kurt Schnidrig
(Dieser Beitrag ist auch im Online-Portal pomona.ch/rro erschienen)