
Geht das kulinarische Erbe des Wallis verloren? Ein Besuch bei Alessia Zuber.
Kurt Schnidrig
Fühlen Sie sich gestresst? Droht ein Nervenzusammenbruch? Befürchten Sie, dass Ihr Körper schrumpft und immer weniger wird? Dann nehmen Sie Sii. Bereiten Sie sich Sii, diesen Nachtisch nach Savièser Art, zu.
Dazu müssen Sie Roggenbrot in 3,5 dl Pinot noir und Rosinen in 0,5 dl Pinot noir über Nacht einweichen. Das eingeweichte Roggenbrot pürieren. Holundersirup, Butter und eingeweichte Rosinen dazugeben und mischen. Die Masse in kleinen Schälchen anrichten und vor dem Servieren mit Rosinen und Schlagrahm garnieren. Et voilà. Sii, dessert valaisan à base de pain et de vin.
Alessia Zuber sagt: „Zwar wird Sii an Hochzeiten, Festen und Grossanlässen als Dessert serviert, aber nicht alle mögen Sii. Davon berichtet Antoinette Varone aus Savièse in meinem Buch. Sie hat Sii schon als Kind nicht gemocht. Zum Glück musste später Antoinette Sii nur noch einmal verzehren – an ihrer eigenen Hochzeit.“
Desserts bestelle sie heutzutage in Bäckereien und Konditoreien, sagt Antoinette im Kochbuch von Alessia Zuber. Auf die urchige Speise mit dem sehr starken Geschmack könne sie gerne verzichten. Was sie dabei in Kauf nimmt: Die Tradition des Sii droht damit langsam verloren zu gehen.
Dies ist ein Beispiel von weiteren 22 Rezepten, die Alessia Zuber für ihr Buch ausgewählt hat. Sie erlauben einen guten Einblick in die ehemalige und gegenwärtige Kochpraxis. Authentische Geschichten illustrieren und vertiefen die Rezepte. Das Kochbuch mit dem Titel Das kulinarische Erbe des Wallis vereinigt Gerichte und Speisen aus dem traditionellen, exotischen und adeligen Wallis.
Mit Liebe zubereitet
Das Gespräch mit Alessia Zuber findet in der Oberwalliser Mittelschule OMS St. Ursula in Brig statt, im Zimmer der Fachschaft Deutsch. Alessia arbeitet hier als Deutsch- und Sportlehrerin. Sie habe schon immer gerne geschrieben, deshalb habe sie sich auch für das Studium der Germanistik entschieden. Ihre zweite grosse Passion sei der Sport. Seit vielen Jahren spielt sie schon Tennis, sie tanzt und ist sportlich engagiert. Und Alessia Zuber verrät: „Ich esse und koche sehr gerne. Diese Kombination passt gut zusammen. Sport und gesunde Ernährung sind natürlich ein angesagtes Thema.“
Worauf sie denn persönlich stehe, möchte ich wissen. Auf 5-Minuten-Rezepte oder doch eher auf stundenlang Gebratenes? Die gewiefte Köchin ist um eine Antwort nicht verlegen: „Es kommt immer darauf an, was ich gerade mache, wichtig ist, dass man jedes Gericht mit Liebe zubereitet.“ An Arbeitstagen fehle oftmals die Zeit, stundenlang etwas im Ofen zu braten, da bevorzuge sie eher ein 5-Minuten-Rezept. In der Freizeit jedoch studiere sie liebend gerne Rezepte, gehe dann einkaufen. Alsdann nehme sie sich bewusst die Zeit, die Rezepte nachzukochen. „Ich koche sehr gerne und probiere immer mal wieder auch Neues aus.“
So ist denn im Kochbuch von Alessia Zuber Beides vertreten: 5-Minuten-Rezepte für Menschen, die im Stress sind, sowie Rezepte für die anderen, die gerne mehr Zeit zu investieren bereit sind.
Regionale Unterschiede
Dank unserer klimatisch günstigen Region habe das Wallis eine Landwirtschaft entwickelt, deren Produkte die Gaumen der Menschen noch heute verwöhnen, weiss die Autorin. „Roggenbrot, Bergkäse, Trockenfleisch, Aprikosenkonfitüre, Petite Arvine, um hier nur einen Bruchteil davon aufzuzählen.“
„Walliser Küche“ ist lediglich ein Sammelbegriff. Natürlich gibt es Edukte, die überall vorhanden sind. Dazu gehören etwa Gemüse und Kartoffeln. Im Wallis seien aber auch regionale Unterschiede und Spezialitäten entstanden, weiss Alessia Zuber. „Ein Beispiel ist der Munder Safran-Risotto, der alleinige Herkunftsort ist in diesem Fall die Region Mund.“
Früher habe man öfter auch mit Alkohol gekocht. „Wir kennen etwa die Ponscheggla, ein traditionelles Süssgebäck aus dem Saastal. Dabei handelt es sich um ein Fasnachtsgebäck, bestehend aus Roggenbrot, Zucker, Weisswein und Schnaps.“
Auch der Johannisbergkuchen wird mit Alkohol, mit dem traditionellen Weisswein Johannisberg, zubereitet. Wer hats erfunden? Vermutlich die Österreicher. Die Weinsorte soll sich über das deutsche Rheingebiet bis ins Wallis verbreitet haben, lese ich mit Erstaunen im Kochbuch nach. Aber tröstlich ist immerhin: Die grösste und beste Anbaufläche dieses AOC-zertifizierten Weissweins soll sich in Chamoson befinden, von den Wallisern stolz Terre de Johannisberg genannt.
Das kulinarische Erbe erhalten
Nicht wenige tradierte Rezepte und Gerichte drohen in Vergessenheit zu geraten. Alessia Zuber macht die fortschreitende Digitalisierung dafür verantwortlich. Den heutigen Menschen fehle oftmals die Zeit, in einem Buch zu lesen und die Rezepte nachzukochen. Viele möchten heute, dass die ganze Kocherei möglichst schnell vor sich gehe. So aber geht das kulinarische Erbe verloren.
„Es ist mir persönlich wichtig, dass ich mit meinem Buch einen Beitrag leisten kann zur Erhaltung des kulinarischen Erbes des Wallis“, sagt Alessia Zuber. Sie hat auch an die ewig Gestressten gedacht. „Wer nur wenig Zeit hat, kann mit seinem Natel nur kurz den QR-Code scannen. Ein 30-Sekunden-Video erleichtert dann zeitsparend das Nachkochen. Auch dies ist ein Beitrag, damit das kulinarische Erbe des Wallis erhalten bleibt. Alessia Zuber schlussfolgert: „Mein Kochbuch habe ich angepasst an das heutige Zeitalter.“
Im Kochbuch finden sich vorwiegend tradierte Rezepte, die man nicht einfach so im Internet finden kann. „Ich habe in Mediatheken und in Archiven recherchiert, um die traditionellen Rezepte zu finden und zusammenzutragen.“ Sie habe sich bemüht, die Rezepte möglichst einfach und leicht lesbar aufzulisten. „Wer weiss, vielleicht entwickelt sich daraus wieder ein neuer Food-Trend!“, mutmasst Alessia Zuber.
Exotische Walliser Küche
Das Buch vermittelt überdies einen spannenden Einblick in die Küche der ausgewanderten Walliser in Argentinien. Die Auswanderer haben die alten Walliser Rezepte in die neue Heimat Argentinien mitgenommen. Entstanden sei ein Mix zweier Kochkulturen, hat Alessia Zuber herausgefunden. Dazu gehören beispielsweise die Mehlsuppe, Gsottus, Simmilla, Weihnachtsbiskuits und Apfelküchlein.
Heimische Produkte aus Argentinien wurden mit traditionellen aus dem Deutschwallis verquickt. So gesellte sich etwa zur chalt Platta aus der Walliser Heimat in Argentinien die mayonesa de ave hinzu, eine Geflügelmayonnaise. Nicht immer mochten die ausgewanderten Walliserinnen und Walliser die argentinischen Produkte in ihren Speiseplan integrieren. Sie kennen zwar den argentinischen Matetee (Yerba Mate) sehr gut, einige weigern sich aber, ihn landesüblich mit einer bombilla (mit einem Strohhalm) zu trinken, weil der Strohhalm miteinander geteilt und weitergereicht wird.
„Lustig sind die argentinischen Chruchtele, die es bei uns im Wallis in der Fasnachtszeit gibt“, lacht Alessia Zuber, „der Unterschied zu unseren Chruchteln besteht darin, dass diese bei den Walsern in Argentinien viereckig sind, bei uns sind sie ja bekanntlich rund.“
Stockalpers exquisite Speisen
Aufgrund seines Reichtums konnte Stockalper es sich leisten, verschiedenste Produkte aus fremden Ländern zu importieren. Dazu gehören Rezepte zur Herstellung von Kapernsalat oder Pouletschnitten, Rehschlegel an Rotwein-Kirschsosse, Kabeljau, Kalbsbrust, Reistorte und Oblaten, gefüllt mit Feigen und Rosinen.
Alessia Zuber hat nun einige Rezepte aus Stockalpers Briger Kochbuch ausgewählt und sie in eine moderne Form umgeschrieben. „Die Auswahl der Rezepte ist dem modernen Zeitgeist geschuldet“, erklärt Alessia Zuber. Das ist verständlich. Denn wer von uns Heutigen möchte ein Gericht mit Herz und Darm oder sogar mit einem Biberschwanz verputzen? Dank Alessia Zubers Vorarbeit ist es nun möglich, Stockalpers Leibgerichte auch noch im 21. Jahrhundert nachzukochen.
Wer die Rezepte nachkocht, sich mit den tradierten Speisen und Gerichten beschäftigt, wer zudem die Produkte einkaufen geht und damit experimentiert, der kann sich sinnlich und lustvoll in frühere Zeiten und in die Lebensweise unserer Vorfahren hineinversetzen, ist Alessia Zuber überzeugt. Dazu trägt auch das Lesen der zugehörigen Geschichten und Anekdoten massgeblich bei.
Das Buch „Das kulinarische Erbe des Wallis“ ist bereits auf der Homepage www.alessiazuber.ch erhältlich, baldmöglichst auch in den ZAP-Filialen und im Buchhandel.
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Text, Bild, Interview und Radiosendung: Kurt Schnidrig