Roman-Autor Urs Hardegger in der ZAP Brig zur Mattmark-Katastrophe: „Seit 60 Jahren hat niemand die Verantwortung dafür übernommen“

Sie boten dem Publikum in der Buchhandlung ZAP Brig einen sehr berührenden Leseabend: Bettina Wyer, Urs Hardegger und Efisio Contini (Bild: Kurt Schnidrig)

Am Nachmittag des 30. August 1965 zuhinterst im Saastal. Auf der Baustelle des grössten Erddamms Europas auf 2197 Metern über Meer halten sich viele Arbeiter in ihren Unterkünften auf. Es ist kurz nach dem Schichtwechsel. Um 17.15 Uhr bricht 600 Meter über ihnen die Zunge des Allalingletschers ab. In nur gerade 30 Sekunden krachen zwei Millionen Kubikmeter Eis und Geröll auf die Wohn- und Arbeitsbaracken. Dies entspricht dem Volumen von 5000 Einfamilienhäusern. Die Menschen in den Unterkünften haben keine Chance. Die Bilanz des Unglücks ist schrecklich: 88 Tote und 5 Verletzte. 56 Tote stammen aus Italien, 23 aus der Schweiz, 4 aus Spanien und 5 aus anderen Nationen. Das jüngste Opfer ist gerade mal 17-jährig, das älteste 70 Jahre alt. Sie hinterlassen 80 Waisen.

Romanautor Urs Hardegger im Interview mit Radio Rottu Oberwallis

Kurt Schnidrig: Herr Hardegger, vor 60 Jahren ereignete sich die Mattmark-Katastrophe, der Abbruch des Allalingletschers, 88 Menschen starben. Warum jetzt nochmals ein Buch? Was hat Sie dazu motiviert?

Urs Hardegger: Mattmark war ein Thema, das mich immer schon fasziniert hatte. Ich war damals achtjährig als sich die Katastrophe ereignete. In unserer Familie war das ein Ereignis. Damals hatte ich nicht richtig verstanden, was da wirklich passiert ist. Aufgrund der Reaktion meiner Eltern habe ich erfahren: Da muss etwas ganz Schlimmes passiert sein. Für mich hat das Wort „Mattmark“ seither einen besonderen Klang gehabt. Immer wieder bin ich seither auf die Vorfälle von damals gestossen. Ich hatte mir schon länger vorgenommen, irgendetwas dazu noch zu machen. Dass mein Buch jetzt zum 60. Jahrestag erscheint, ist doch eher ein Zufall. Mit allen diesen Gedenkveranstaltungen zusammen hat es sich nun aber sehr gut ergeben.

Kurt Schnidrig: In Ihrem Buch gehen Sie auch noch einmal der Schuldfrage auf den Grund. Die Schuldfrage war auch schon vor 60 Jahren ein wichtiges Thema. Das Visper Kreisgericht und später auch das Kantonsgericht haben die Beteiligten alle freigesprochen. Haben Sie nun etwas Neues herausgefunden? Oder legen Sie eine reine Fiktion in Romanform vor?

Urs Hardegger: In meinem Buch greife ich die Ereignisse nochmals auf, und ich habe auch sehr genau recherchiert. Ich war diesbezüglich sehr aktiv. Ich habe Einblick erhalten in die Akten. Teilweise sind die Akten erst seit 2022 zugänglich. So gesehen, gebe ich in meinem Buch schon auch neue Informationen. Ich bin der Meinung, dass man heute genauer weiss, was wirklich passiert ist. Zur Schuldfrage möchte ich sagen: Seit 60 Jahren hat niemand die Verantwortung dafür übernommen. Es sind Wunden zurückgeblieben, die nicht wirklich verheilen konnten. Das war eine Frage, die mich beschäftigt hat und die ich noch genauer angehen wollte. Absolut Neues gibt es nicht in meinem Buch. Aber ich habe versucht, die Katastrophe in ihre Zeit einzuordnen, in die 1960er-Jahre, in den damaligen Fortschritts-Optimismus. Damals galt „Anythings goes – Alles ist möglich“. Ich habe die damalige Zeitstimmung nochmals einfangen wollen. Aus diesem Grund habe ich einen Roman geschrieben und nicht ein Sachbuch. Ich habe mich einfühlen wollen in das Denken und in die damaligen Menschen. Ich wollte aus der Perspektive dieser Menschen schreiben, wie sie gedacht haben. Dazu gibt es in meinem Buch einen zweiten Erzählstrang, der in der Gegenwart spielt. Was damals geschah, wollte ich mit der Gegenwart kontrastieren.

Urs Hardegger in der ZAP Brig mit seinem Roman „Ein unvorhersehbares Ereignis“

Autor Urs Hardegger und Efisio Contini mit seiner Gitarre lassen das Publikum in der ZAP Brig die Stimmung nachempfinden, so, wie sie damals in den Baracken unterhalb des Allalingletschers geherrscht haben mag (Bild: Kurt Schnidrig)

Autor Urs Hardegger lebt und arbeitet in Zürich. Er war Mitarbeiter am Institut für Historische Bildungsforschung, Dozent an Pädagogischen Hochschulen. Sein Roman beruht auf wahren Begebenheiten, die Personen jedoch sind fiktiv.

Das Kreisgericht Visp und auch das Kantonsgericht haben damals alle 17 Verantwortlichen von jeglicher Schuld freigesprochen. Darunter Ingenieure und Direktoren der Elektrowatt und zwei SUVA-Beamte. Erledigt ist damit die Aufarbeitung der Mattmark-Katastrophe jedoch noch lange nicht.

Ein Expertenteam kam schon damals zum Schluss, dass den Verantwortlichen zahlreiche Hinweise auf die Gefährlichkeit des Gletschers vorlagen. Zudem hatte man es verpasst, ein funktionierendes Kontroll- und Alarmsystem einzurichten.

War wirklich niemand schuld? Im Roman von Urs Hardegger taucht Jahrzehnte später das verschollene Manuskript des Ingenieurs Hans-Rudolf Hilfinger wieder auf und enthüllt eine Geschichte von Freundschaft, Liebe und bohrenden Zweifeln.

Hans-Rudolf Hilfinger bietet sein Manuskript einem Verleger an mit den Worten: „Das ist meine Geschichte, sie bringt Licht ins Dunkel.“ Allzu lange habe er geschwiegen, denn die Kunst der Vertuschung habe damals seltsame Blüten getrieben. Aber „die Gespenster im Kopf liessen sich nicht vertreiben.“

Weshalb hat Ingenieur Hans-Rudolf Hilfinger seinen Traumjob bei Elektrowatt Zürich aufgegeben? Warum hat er Wohnsitz genommen in einem tristen Gastzimmer im abgelegenen Walliser Bergtal? Warum nur ist er Vorarbeiter geworden auf der Baustelle zuhinterst im Saastal? Quälende Fragen, die sich der Protagonist im Roman in böser Vorahnung stellt.

Dennoch erlebt Ingenieur Hilfinger auf der Baustelle auch erfüllende und glückliche Momente. Etwa dann, wenn er zum ersten Mal einen der charakteristischen Mattmark-Steine in der Hand hält, den Allalin-Gabbro. „Das erste Mal, aber wohl nicht das letzte Mal“, reflektiert der Ingenieur.

Bereits der erste Abend in der Kantine inmitten der italienischen Gastarbeiter versetzt den Ingenieur Hilfinger in eine sentimentale und melancholische Stimmung. Die Arbeiter aus Italien greifen zur Handorgel und spielen das gesamte Potpurri der canzoni italiane famose rauf und runter. Sie singen und spielen von Abschied und von Liebe, fern der italienischen Heimat: Addio amore.

Efisio Contini und seine Gitarre lassen uns in der ZAP Brig mit canzoni italiane più belle e famose di sempre abtauchen in jene sentimentale und melancholische Stimmung, die wohl auch damals in den Baracken der Gastarbeiter nach getaner Arbeit für Trost und für ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gesorgt haben mag.

In der ZAP Brig setzt sich Schauspielerin Bettina Wyer neben den Autor Urs Hardegger und mimt die verängstigte Saaser Frau Kalbermatten (Bild: Kurt Schnidrig)

In der ZAP Brig setzt sich eine Saaserin, Frau Kalbermatten, neben den Ich-Erzähler. Frau Kalbermatten (gespielt von Bettina Wyer) ist eine Bäuerin, die sich um die Natur sorgt, die Umweltzerstörung durch die riesige Baustelle. Frau Kalbermatter lebt unterhalb des Staudamms und fürchtet um ihr Leben: „Eine Staumauer ist von Menschen gemacht, nur die Natur ist ewig.“

Autor Urs Hardegger liest bewusst nur Passagen aus seinem Roman, die sich in der Zeit vor der schrecklichen Katastrophe ereignen und abspielen. „Alles über die fürchterliche Katastrophe, das müsst ihr schon selber nachlesen, im Roman Ein unvorhersehbares Ereignis“, schliesst er seine spannende und sehr berührende Lesung.  

Im Rahmen der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Tragödie von Mattmark lädt der Verein Italia Valais und ein Ad-hoc-Komitee zur Ausstellung Mattmark 1965-2025 ein. Die Eröffnung der Ausstellung findet statt am Montag, 28. April 2025 um 18 Uhr in der Berufsfachschule Oberwallis (BFO) an der Gewerbestrasse 2 in Visp. Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft der Italienischen Botschaft Bern, des Generalkonsulats von Italien in Genf und der Regierung des Kantons Wallis. Am Einweihungsprogramm mitwirken werden auch Romanautor und Historiker Urs Hardegger und Liedermacher Efisio Contini.

Hören Sie dazu den Beitrag auf Radio Rottu Oberwallis am Ostermontag.

Text, Bilder und Radiosendung: Kurt Schnidrig