Wer in der Samstagnacht durch die Jodlermeile in Brig flanierte, der kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie stellten sich gruppenweise unter Strassenlampen, neben Fast Food-Stände oder auf Podeste und sangen und jodelten aus vielstimmigen Kehlen, die Jodler, Jung und Alt, friedlich vereint. Wer die musikalische und literarische Entwicklung der letzten Jahrzehnte mitverfolgt hat, der reibt sich die Augen. Wie ist das möglich? Weshalb hat der Jodelgesang – oder was viele heute darunter verstehen – sich derart in die Breite entwickeln können?
Blenden wir dreissig Jahre zurück ins Jahr 1987, als sich in Brig schon mal die nationale Jodlerfamilie ein Stelldichein gab. Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die damals 20-30-jährigen fragen, ob sie sich an dieses Fest noch erinnern, dann schütteln viele nur verständnislos den Kopf. Bei uns „Jungen“ damals waren die Jodler ganz einfach nicht existent. Wir ignorierten damals den Jodelgesang. Die 80er Jahre waren das Jahrzehnt von Heavy Metal und Rock. Gegen diesen Mix aus holperigem Schlagzeug, hysterischem Gesang und donnernden Gitarren, bei dem das Konzerthaus jeden Moment auseinanderzufallen schien, und wo wir uns alle extatisch in den Rock-Himmel schraubten, hatten die Jodler mit ihrer gesungenen Tonfolge mit Überschlagen zwischen Brust- und Kopfstimme, mit Fistel und Falsett, absolut keine Chance.
Am 31. Juli 1987 – als die Briger schon mal die nationale Jodlerfamilie empfingen – erschien das Album von Guns’n’Roses mit dem Megahit „Appetite For Destruction“. Das war einer der ganz grossen Klassiker der Rockgeschichte, unverzichtbar neben Live at Leeds, Led Zeppelin IV, Sabbath Bloody Sabbath, Sgt. Pepper, Elvis Sun Sessions und all den anderen Meilensteinen. Das war unsere Welt. In dieser Welt, in diesem Wahnsinns-Inferno, hatten die Jodler null Chancen von uns gehört zu werden. Unsere Ohren waren zugedröhnt von der „härtesten Band der Welt“, den G’n’R. Die G’n’R waren die Rückkehr des Rocks in der Prägung der Sechziger Jahre, garniert auch mit Drogen und Skandalen dieser Ära.
Seit den wilden 80er-Jahren hat sich einiges getan, es gibt aber Verbindungspunkte. Der moderne Jodel hat sich auch rockige Töne einverleibt. Der moderne Jodel hat das Träumerische zurück gebracht, unterstützt durch die Mundart-Songs von Gölä und Konsorten. Mit den Mundart-Chansonniers fand auch die Mundart-Literatur vermehrt Eingang in den Jodelgesang. Bis anhin kannte der Jodelgesang fast nur Silben, die aus Vokalen und Konsonanten gebildet wurden. Für das Jodlerfest 2017 in Brig schlug der Hit „Ma Chérie“ von DJ Antoine voll ein. Die Werbung landete mit der von Walliser Jodlern neu interpretierten Cover-Version einen Volltreffer. Mit dem Mix von poppigen Tönen, unterlegt mit Jodelgesang, erreicht man fast alle Generationen, auch wenn urchige Jodler dieser Entwicklung kritisch gegenüber stehen mögen.
Das sogenannte „Starduett“ mit der Jodlerin Kathrin Burch und Gölä illustriert diesen Sachverhalt bestens: Ein gmögiger Gölä-Song, eine sympathische Jodlerin und das Ganze abgemischt mit dem Jodlerclub „Echo vom Glaubenberg“, das ist der Stoff, aus dem moderne und erfolgreiche Volksmusik gemacht ist. Diese Art von Musik hat einem breiten Publikum auch wieder das Träumerische geschenkt, etwa der Jodel-Gölä-Song „Indianer“. Ganz toll. Und treibt einem wie mir die Tränen in die Augen:
Ob gross oder chli, i bi geng ä Tröimer gsi. Ha geng dänkt, ds Güete gwinnt de scho, ha gmeint es sig eso. Aber we du älter wirsch, we du i d Wält usä geisch de merksch, je meh das du gsehsch, desto weniger versteisch…
Zum Bild: Beim Flanieren durch die Jodlermeile in der Samstagnacht in Brig. Das Jodellied hat sich der modernen Zeit erschlossen. Foto: Kurt Schnidrig.