In diesen Tagen fiel in höheren Lagen der erste Schnee. Die ersten weissen Flocken haben Schriftsteller zu allen Zeiten fasziniert. Dem ersten Schnee kommt in der Literaturgeschichte seit jeher eine besondere Bedeutung zu. Der erste Schnee war früher etwas Bedrohliches, heute ist er eher etwas Romantisches. Dass Schriftsteller den ersten Schnee als Stilmittel in ihren Erzählungen einsetzen, lässt sich nachweisen seit dem Zeitalter des Barock über die Epoche der Romantik bis in die Gegenwart.
Der erste Schnee ist eine beliebte Metapher (ein Bild) für Geborgenheit, Reinheit und Unberührbarkeit. Der erste Schnee deckt die Wunden zu, die wir der Natur geschlagen haben. Der erste Schnee legt sich über eine geschundene und laute Welt und lässt sie ruhig und still werden. Der erste Schnee hat damit etwas Archaisches, er ist in der Literatur das Gegenstück zur zivilisierten und technisierten Welt.
In der Dichtung des Barock kam dem Schnee noch eine zweideutige Bedeutung zu. Zum einen stand die schneeweisse Farbe für die schneeweisse Haut und damit für die weibliche Schönheit. Zum anderen stand das Schneemotiv auch für die Vanitas-Thematik, also für die Vergänglichkeit unseres Lebens. So wie unser Leben in diesem irdischen Tränental einmal ein Ende finden wird, so schmilzt auch der Schnee dahin.
Auch heute noch bedienen sich erfahrene Roman-Autoren des Schneemotivs. Dies geschieht zum Beispiel, um die Spannung im Roman auch atmosphärisch anzufachen. Der historische Detektivroman „Der Name der Rose“ von Umberto Eco beginnt mit folgenden Sätzen: „Es war ein klarer spätherbstlicher Morgen gegen Ende November. In der Nacht hatte es wenig geschneit, und so bedeckte ein frischer weisser Schleier, kaum mehr als zwei Finger hoch, den Boden.“ Der erste Schnee mit dem Wintereinbruch gleich zu Beginn dieses unheimlichen Kloster-Krimis lässt uns als Leser aufhorchen. Der schneeweisse und winterkalte Start in die Geschichte deutet auf ein heisses Ende hin – und tatsächlich geht die mittelalterliche Abtei mit all ihren Schätzen und mit all ihren zwielichtigen Bewohnern zum Schluss in Flammen auf. Die Unschuld des ersten Schnees verliert sich in einer Feuersbrunst.
Der schmelzende Schnee dagegen verkündet frühlingshafte Gefühle. Wie so ganz anders beginnt die lockere und wärmende Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Eichendorff: „Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich sass auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine.“
Für alle, die mit der kalten Jahreszeit nicht allzu viel am Hut haben, hier deshalb zum Trost das schöne und hoffnungsvolle Gedicht von Theodor Storm:
Nebel hat den Wald verschlungen, / der dein stilles Glück gesehn; / ganz in Duft und Dämmerungen / will die schöne Welt vergehn. / Nur noch einmal bricht die Sonne / unaufhaltsam durch den Duft / und ein Strahl der alten Wonne / rieselt über Tal und Kluft. / Und es leuchten Wald und Heide, / dass man sicher glauben mag: / hinter allem Winterleide / liegt ein ferner Frühlingstag.
Text und Foto: Kurt Schnidrig