
Die Besucherinnen und Besucher kommen ans Literaturfestival Leukerbad, weil sie wissen, dass sie hier eine spannende Mischung vorfinden, dass es hier was gibt fürs Herz, wo man auch mal herzhaft lachen darf, sich über schöne Geschichten freuen darf, wo die grossen Liebesgeschichten erzählt werden, wo es aber auch die Möglichkeit gibt, sich vertieft in etwas hineinzugeben und sich auch mit dem auseinanderzusetzen, was in unserer Welt schwierig und traurig ist. Joshua Cohen und Christian Kracht stehen stellvertretend dafür.
Kurt Schnidrig
Joshua Cohen, der US-amerikanische Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln, etablierte sich als Pulitzer-Preisträger weltweit zu einem der führenden Autoren seiner Generation. Er hätte aus Israel nach Leukerbad anreisen wollen, was aufgrund der aktuellen Sicherheitslage nicht möglich ist. Die Veranstaltung mit Joshua Cohen musste deshalb hybrid stattfinden, Cohen wurde per Zoom zugeschaltet.
Christian Kracht wuchs in der Schweiz, den USA, Kanada und Südfrankreich auf. Wo er zurzeit lebt, weiss man nie so genau, das gehört zu seinem medialen Versteckspiel. Er ist Filmwissenschaftler und schreibt auch Drehbücher. Mit seinen Bestsellern «Eurotrash» und «Die Toten», weltweit in mehr als 30 Sprachen übersetzt, schrieb er sich in die Top-Liga der europäischen Autorenschaft. Sein aktueller Megaseller «Air» führt derzeit die Bestenlisten an.

Christian Kracht und Joshua Cohen sind befreundet. «Wir haben uns in Basel zum 100. Geburtstag von Albert Hofmann näher kennengelernt», verrät Christian Kracht, später haben wir uns in Jerusalem getroffen.» Beim Schreiben seines Buches «Air» sei er in einen Schreibstau geraten. «Ich konnte die verschiedenen Handlungsstränge nicht zusammenfügen.»
Die Zusammenarbeit mit Joshua Cohen vergleicht Christian Kracht mit jener von Stanley Kubrick und Steven Spielberg im Science-Fiction-Film «A.I. – Künstliche Intelligenz». (Ursprünglich war dies ein Filmprojekt von Stanley Kubrick, das er aber vor seinem Tod an Steven Spielberg übergeben hat. Anm.d.Red.) Bei den Arbeiten zum Buch «Air» sei Joshua Cohen der Stanley Kubrick gewesen und er, Christian Kracht, der Steven Spielberg», verriet der Autor in Leukerbad nicht ohne ein schelmisches Lächeln.
«Ich habe Joshua als Cameo in die Geschichte hineingeschrieben», sagt Christian Kracht im Gespräch mit Moderator Raphael Urweider. Jetzt, nach Abschluss des Buches, sei es schwierig, wer wem was eingeflüstert habe. (Ein Cameo, auch Cameo-Auftritt, ist das häufig überraschende, zeitlich sehr kurze Auftreten einer bekannten Person in einem Film oder in einem fiktionalen Werk. Anm.d.Red.)
In seinem aktuellen Buch «Air» nimmt der Protagonist, der Schweizer Dekorateur und Inneneinrichter Paul, einen seltsamen, aber bestens bezahlten Auftrag in Norwegen an. Die Wege führen ihn aber auch in die Spätantike, sogar rückwärtsgewandt bis in die Eiszeiten und märchenhaft in Gefilde jenseits von Zeit und Raum.
Ein «Cohen», es ist nicht wirklich Joshua Cohen, bringt Paul bei, wie er seinen Auftrag erledigen könnte. Erstmals hat sich Kracht in das literarische Fantasy-Genre vorgewagt. Dann etwa, wenn sein Protagonist in einem fernen Sonnensystem von einer Plasma-Explosion weggesaugt wird. Zwar machen sich die Mitmenschen auf die Suche nach ihm, aber er ist weg, er ist eingesaugt worden von der Geschichte, die sich nun als Haupthandlung auf einem anderen Planeten abspielt. «Meine Romane handeln immer vom Verschwinden und von spurloser Auflösung», erklärt Christian Kracht.
Auf die Frage, wie es denn möglich sei, aus einer riesigen und hochmodernen Datenzentrale zurück ins Mittelalter gebeamt zu werden, legt Christian Kracht seine Bezüge zur chinesischen Literatur offen, von der er sich habe inspirieren lassen. «Das Chaos der Welten, drei Sonnen, die sich in einem Gravitationsfeld zueinander befinden – so etwas wollte ich auch mal ausprobieren», gesteht Kracht.
Was denn das für eine Zeit sei, die auf ihn eine derart grosse Anziehungskraft ausgeübt habe, dass sie Eingang in sein Buch «Air» gefunden habe? «Es war eine Zeit, in der viele Dinge erworben und wieder vergessen wurden: Das Gegenteil also von unserer Zeit», fasst Kracht zusammen.
Im Literaturgeschäft ist es müssig, nach einer Botschaft, einer Message oder gar einem Anliegen zu fragen. Christian Kracht jedoch wartet mit einer präzisen Antwort auf: «Mein Anliegen besteht darin, aufzuzeigen, dass die Probleme, die mein Protagonist Paul am Anfang hat, geradezu Luxusprobleme sind. Unsere heutigen Depressionen entstehen nicht selten aus einer Melancholie heraus, sie sind artifiziell. Mein Protagonist kommt aus einer eskapistischen Welt (aus einer Welt, die von der Realität und ihren Anforderungen abweicht und ersetzt wird durch Illusionen, Zerstreuungen und Vergnügungen, Anm.d.Red.) in eine karge Welt, in der die Probleme klein erscheinen.
Christian Kracht dreht seine Antworten im Gespräch jeweils noch eine Schrägheitsstufe weiter: «Ich komme vom Film her, habe lange Jahre im Dunkeln gesessen. Ich hoffe, nicht zu langweilen.» Er bevorzuge einen Plot, der bedeutungslos sei, der auch nie aufgelöst werde. «Wie eine Pistole, die nie ausgeschossen wird.» Es seien dies narrative Elemente, die verhindern, dass man einschläft, fügt der Bestseller-Autor an.
Ist dies die Auflösung des Rätsels um die Mega-Erfolge von Krachts Büchern? Ist es die narrative Technik, die filmisch geprägt ist, die seinen Büchern eine weltweite Leserschaft beschert? Als Erzählperspektive dominiert die Innenperspektive. Die Landschaften, die der Autor beschreibt, sind die Landschaften, die sein Protagonist Paul sieht.
Die Leukerbadner Auftritte der beiden Galions-Figuren im gegenwärtigen Literaturbetrieb, Joshua Cohen und Christian Kracht, haben nicht nur zur Lösung der altbekannten Diskussion beigetragen, was denn nun einen Bestseller ausmache, sie haben auch offengelegt, wie wichtig internationale Netzwerke sind. Joshua Cohen hat wie ein (Holz-) Schnitzer, wie ein Geistesanbieter, gewirkt, der dem Autor Kracht die Schreibintelligenz eingepflanzt hat. In diesem Sinne habe er sein Gesicht auf dem Autorenfoto im Buch «Air» unkenntlich gemacht. «Gut wäre, wenn auch der Name nicht mehr zu sehen wäre», fügt Christian Kracht an und kommt zum Schluss: «Das Buch hat sich Joshua Cohen ausgedacht.»
Dieser Beitrag erschien am 23.06.2025 im „Walliser Bote“
Text und Bilder: Kurt Schnidrig