Es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross. Nun lass die Winde los und jage die letzte Süsse in den schweren Wein! – Nach diesem endlos heissen Sommer gehen mir Rilkes Sätze nicht mehr aus dem Sinn. Ich mache mich auf die Spuren des grossen Dichters.
Muzot der mittelalterliche Wohnturm befindet sich auf dem Gemeindegebiet von Veyras, oberhalb von Siders gelegen. Die Wanderung nach Muzot ist lohnend, auch ein Blick in den Garten ist erlaubt. Hier schrieb oder vollendete der Dichter seine Hauptwerke. Das Schlösschen ist aber nach wie vor in Privatbesitz und für Besucher grundsätzlich nicht zugänglich.
Die Kapelle von Muzot links oberhalb des Wohnturms ist jedoch geöffnet. Zu Rilkes Zeiten war die Kapelle unter dem Namen Sainte-Anne bekannt. Das ist nicht ganz nachvollziehbar, denn eigentlich ist die Kapelle der Darbringung Mariä im Tempel geweiht. Rilke soll im letzten Lebensjahr 1926 verschiedene Unterhalts- und Renovationsarbeiten veranlasst haben.
Und da entdecke ich auch ein Geschenk, das Rilkes Mutter der Kapelle vermacht hat: Ein Bild der Muttergottes und eine Lampe davor. Das Bild und die Lampe stammen vom Elternhaus Rilkes in der Herrengasse 8 in Prag.
Der Sommer war sehr gross. In der Kühle der Kapelle kommen spätsommerliche Gefühle auf. Ich versuche mich an das Rilke-Gedicht zu erinnern, das mich seit meiner Kindheit jeweils nach der sommerlichen Hitze nach der herbstlichen Kühle sehnen lässt. Das Gedicht mit den drei Strophen, jeweils mit wachsender Versanzahl, könnten Sie es rezitieren, liebe Leserin, lieber Leser?
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, / und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; / gib ihnen noch zwei südlichere Tage, / dränge sie zur Vollendung hin und jage / die letzte Süsse in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. / Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, / wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben / und wird in den Alleen hin und her / unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rilke nahm Abschied vom Sommer und von der Liebe. Rainer Maria Rilke hatte das Gedicht in einer ganz besonderen Lebensphase geschrieben. Er musste nicht nur vom Sommer Abschied nehmen. Auch seine Geliebte, die Bildhauerin Clara Westhoff, musste er in Berlin zurücklassen. Rilke zog alleine in die Stadt der Liebe, nach Paris, wo er eine Monographie über den Bildhauer Auguste Rodin in Angriff nehmen wollte. In dieser Situation wohl ist dieses sein vielleicht berühmtestes Gedicht entstanden.
Gott als wetterbestimmende Persönlichkeit. Das Lyrische Ich ist in diesem Fall der Dichter selbst. Der atheistische Goethe reduziert Gott auf eine rein wetterbestimmende Persönlichkeit. Der Dichter gibt Gott seine Anweisungen. Er verlangt: „Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren!“ Und: „Auf den Fluren lass die Winde los!“ Und: „Jage die letzte Süsse in den schweren Wein!“
Das Wallis als Beethoven-Symphonie. Rilke liebte den Übergang vom Spätsommer zu den herbstlichen Tagen. Es war dies die Zeit für Wanderungen, die Rilke auf die umliegenden Hügel, entlang der Rhone oder in den Pfynwald führten. Die wundervollen Spätsommer-Tage im oberen Teil des Wallis beschrieb Rilke mit Insbrunst:
„Draussen ist ein Tag unerschöpflich in seiner Herrlichkeit, dieses von Hügeln bewohnte Tal, immer gibt es neue Wendungen, Abwandlungen, comme si c’était encore le mouvement de la Création qui remuait les aspects changeants. Nun haben wir uns die Wälder entdeckt (Forêt des Finges) voller kleiner Seeen, blauer, grünlicher, fast schwarzer – , welches Land hat soviel Einzelheiten in so grossem Zusammenhang; es ist der Schlusssatz einer Beethoven-Symphonie.“ (An Nanny Wunderly-Volkart, 15. Juli 1921).
Rilkes letzter Wille war es, in Raron begraben zu werden. Wie kam es dazu? Rilke entdeckte Raron schon bei einem Besuch am 16. August 1921. Am 8. Oktober 1922 besuchte er dann in Raron eine Theateraufführung. Es handelte sich um ein Stück von René Morax mit dem Titel „Die Quatembernacht“. Drei Jahre später, am 27. Oktober 1925, bestimmte Rilke dann den Friedhof von Raron zu seiner letzten Ruhestätte. Es lohnt sich, im Museum „auf der Burg“ im alten Pfarrhaus von Raron den Raum zu besuchen, der dem Andenken des Dichters gewidmet ist.
Text und Fotos: Kurt Schnidrig