Die Schneeglöckchen klingeln die Romantiker aus dem Winterschlaf. Sie klingeln unter dem Schnee. Sie sammeln ihre Kräfte und wollen die ersten sein, die nach dem langen Winter die Sonne einfangen. Aus dem Winterschlaf geweckt hat sie das Klopfen der vielen Schneetautropfen. So läuten sie schon bald das Fest des Frühlings ein. Viele Legenden ranken sich um das Schneeglöckchen. Eine Legende erzählt, dass nach der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies die beiden Sünder während eines harten Winters in einer Schneelandschaft bitter weinten. Eva zeigte Reue, und überall, wo ihre Tränen hinfielen, entstand eine kleine Pflanze mit einer Blüte in Form von Tränen.
Schneeglöckchen als Muntermacher. Mit ihrem symbolischen Läuten sollen die Schneeglöckchen das menschliche Herz erwärmen: Horch, liebliches Läuten! Was will es doch sein? Ei, Frühling soll’s sein! Und hast du im Herzen noch Eis und noch Schnee, noch Sorgen und Schmerzen, nun fort mit dem Weh! Schneeglöckchen rührt helle die Glöckchen so fein. Wie ist’s, du Geselle, du stimmst doch mit ein? (nach Franz Alfred Muth, 1839-1890).
Frühblüher leben gefährlich. In der Poesie wird das Schneeglöckchen nicht selten gleichgesetzt mit Ungeduld, die bestraft wird. Wer nicht warten kann, der bezahlt oftmals teuer dafür. Das trifft auch für das menschliche Leben zu: Und aus der Erde schaut nur alleine das Schneeglöckchen. So kalt ist noch die Flur, es friert im weissen Röckchen. Ach, sie konnten es nicht erwarten. Aber weiss vom letzten Schnee war noch immer Feld und Garten. Und sie sanken um vor Weh. So schon manche Dichter streckten sangesmüde sich hinab, und der Frühling, den sie weckten, rauschte über ihrem Grab. (nach Theodor Storm, 1817-1888).
Die eigenen Träume leben. Manchmal muss man es einfach versuchen, auch wenn die widrigen Umstände dagegen sprechen. Die Schneeglöckchen sind eine Aufforderung an uns Menschen, unsere Träume zu leben, unseren geheimen Wünschen mutig Raum zu geben: Sie ist erwacht, des Winters einzige Blume. In Tod und Nacht träumte die Botin des Frühlings von Licht und Leben. Du einsame Blume, dein Blühen tröstet die Menschenkinder. Nichts ist vergebens. Auch nicht dein kurzes Bemühen. Mit neuem Glauben blickst du auf deine Bahn. Das Brausen und Glühen, das uns der Frühling schickt, du fühlst es nahen! (nach Richard Dehmel, 1863-1920).
Das Frühlingstheater ist eröffnet. Das Erwachen der Natur ist vergleichbar mit einem grossen Theater, das ruhig und zaghaft vom Schneeglöckchen eröffnet wird: Die Schneeglöckchen, ohne Furcht vor der grimmigen Kälte, spitzen fleissig nach oben. Sie müssen sich sputen, dass sie fertig sind, eh das Gesträuch über ihnen Blätter kriegt und ihnen die Sonne wegnimmt. Das Frühlingstheater wäre also auch wieder mal eröffnet. (nach Wilhelm Busch, 1832-1908).
Schneeglöckchen über alles! Wer als erster kommt, dem gehört die Welt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Deshalb wohl gilt: „And the winner is … Das Schneeglöckchen!“. Etwas poetischer formuliert: Und ich sage euch, keine Siegespalme, kein Baum der Erkenntnis, kein Ruhmeslorbeer ist schöner als dieser weisse, zarte Kelch am blassen Stängel, der im frostigen Wind schaukelt… (Karel Capek, 1890-1928).
Und Sie, liebe Leser*innen? Haben Sie es nicht gehört, das leise Klingeln im Garten gestern Nacht? Ihnen sei es verraten: Es war kein Klingeln, es war kein Singen, es war ein Küssen. Rührt die stillen Glöckchen sacht, dass sie alle tönen müssen von der künftigen bunten Pracht. (Frei nach Joseph Freiherr von Eichendorff, 1788-1857).
Text und Fotos: Kurt Schnidrig