Das Lesen und Schreiben hat sich im vergangenen Jahr in verschiedener Beziehung erfreulich weiterentwickelt. Die Monate der Pandemie haben insbesondere das Schriftstellerische befeuert. Viele Autorinnen und Autoren haben die „Massnahmen“ der Regierung genutzt, um endlich zu Papier zu bringen, was schon länger im Schwange war. „Bleiben Sie zu Hause!“ war für viele von uns eine Aufforderung, die verordnete Ruhe in den eigenen vier Wänden zu nutzen, um literarische Projekte umzusetzen. Davon hat auch die Buchbranche profitiert. Auch dem Lesen war die stille Zeit zu Hause zuträglich. Besonders im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur war ein wahrer Aufschwung festzustellen. Studien haben ergeben, dass im vergangenen Jahr Kinder und Jugendliche 30-40 Prozent mehr Bücher gelesen haben. Auch im Erwachsenenbereich fällt auf, dass zwar die Digitalisierung weiter fortgeschritten ist, dass aber sowohl das Schreiben als auch das Lesen von Büchern einen tüchtigen Schub erhalten hat.
Die Pandemie hat neue Bücher-Trends hervorgebracht. Die Flucht aus der Stadt aufs Land hat gar ein neues Literatur-Genre etabliert. Als Beispiel mag der Roman „Über Menschen“ der deutschen Politikerin und Autorin Juli Zeh dienen. Das Buch wird wohl als der Pandemie-Roman schlechthin in die Literaturgeschichte eingehen und gehört bereits im Deutschunterricht unserer Mittelschulen zum Literaturkanon. Ähnliches lässt sich auch in der Lyrik feststellen. Während der vergangenen Monate hatte sich das Genre der „Corona-Lyrik“ etabliert, vor allem getragen von Poetinnen wie Anja Kampmann. Ihre Texte handeln von der zwischenmenschlichen Entfremdung, von der Sehnsucht nach Berührungen und nach menschlicher Nähe, kurz, von all dem, was wir während der Pandemie so schmerzhaft vermisst haben.
Der Entwicklungs-Roman hat in virenverseuchter Zeit einen wichtigen Stellenwert erlangt. Die Autorenschaft schaut zurück, sie sucht nach den eigenen Wurzeln. Stellvertretend sei hier der Besteller von Benedict Wells mit dem aussagekräftigen Titel „Hard Land“ erwähnt. Der Literaturbetrieb der vergangenen Monate war bestimmt von einer ausgesprochen melancholischen Stimmung. Man fühlte sich unvermittelt wieder an die letzten und wichtigsten Werte erinnert. Die Literatur versank im Träumerischen. Was wäre, wenn? Worauf kommt es im wirklichen Leben an? Als Beispiel sei der Welt-Bestseller „Mein letzter Wunsch“ von Nicholas Sparks erwähnt, dessen Handlung dreht sich um jenes Thema, das am Ende aller menschlichen Bemühungen steht: Erlösung durch Liebe.
Aus regionaler Sicht hatte das Jubiläum „50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht“ besonders viele Autorinnen zum Verfassen von Statements und Erinnerungen motiviert. Vielfach sind sogenannte „Anthologien“ entstanden, teils auch mit satirisch-provokativen Titeln wie etwa „Gruss aus der Küche“. In dieser Textesammlung hatte beispielsweise die Historikerin Elisabeth Joris über „List, Ironie und Kampfeslust“ geschrieben. Es sind dies Werte, welche die Frauen auf ihrem Weg zur Gleichberechtigung an den Tag gelegt hatten. Die Stadtflucht als bevorzugtes Pandemie-Thema ist auch in der regionalen Buchproduktion zu finden, so etwa im Roman „La Catherine“ der Psychiaterin Franziska Loepfe. Darin bricht eine Gommer Bauerntochter aus engen dörflichen Verhältnissen aus, um die Verlockungen des Stadtlebens zu erproben. Die Aufarbeitung von Vergangenem als Ausgangspunkt für eine neue Zukunft motivierte die Autorenschaft. Stellvertretend sei das Theaterstück „WasserPunkt“ der Schauspielerin und Autorin Annelore Sarbach angeführt. Das Oberwallis diente überdies bedeutenden Erzählwerken als Schauplatz. Der philosophische Liebeskrimi von Sabine Haupt, Literaturprofessorin an der Universität Freiburg, mit dem Titel „Lichtschaden Zement“ spielt im Goms, in Gluringen.
Literatur-Events mussten grösstenteils der Pandemie ihren Tribut zollen und wurden abgesagt. Mutig und ideenreich, in gut belüfteten Zelten, zog Hans Ruprecht trotzdem die 25. Edition des Literaturfestivals Leukerbad durch und wurde belohnt durch einen erfreulichen Publikums-Aufmarsch. Einen Ausweg aus dem kulturellen Schattendasein während der Pandemie bot die digitale und mediale Darbietung. So feierten wir den Schweizer Vorlesetag im Mai am Radio. Verteilt über den ganzen Tag waren auf rro verschiedene Kurzlesungen aus Büchern von regionalen Autorinnen und Autoren zu hören. Die Schweizer Erzählnacht hingegen konnte im November in allen vier Landesteilen und in über 600 Ortschaften durchgeführt werden, im Oberwallis schöpften Erzählgruppen in acht Gemeinden aus einem reichen Fundus von Geschichten zum diesjährigen Motto „Unser Planet – unser Zuhause“. Auch regional erlebte das Schreiben von Büchern einen Aufschwung, was nur schon die zahlreichen literarischen Anässe des Herbstes belegen. Die Lektorats-Gespräche, die ich von September bis November in der Mediathek Wallis leiten durfte, offenbarten vor allem dies: Den Traum vom eigenen Buch träumen viele von uns. Der Königsweg zum Lesen und Schreiben wird auch künftig über das gedruckte Buch führen.
Text, Fotos und Radiosendung: Kurt Schnidrig