Berühmte Gemälde von bekannten Malern aus vergangenen Jahrhunderten sind häufig Frauen-Porträts. Was wäre, wenn die Frauen auf den Bildern von Malern wie Leonardo da Vinci, Rembrandt, Vincent van Gogh oder Edvard Munch sprechen könnten? Die Schweizer Autorin Martina Clavadetscher hat den Frauen auf den Bildern grosser Maler eine Stimme verliehen.
Das Buch, in dem porträtierte Frauen ihre Geschichte erzählen, heisst „Vor aller Augen“. Handelt es sich bloss um eine originelle Idee der Schweizer Buchpreisgewinnerin oder steckt mehr dahinter? Aus feministischer Sicht geht es um ein wichtiges Anliegen. Die ungerechtfertigte männliche Dominanz in der Kunstgeschichte ist ein Dorn im Auge feministischer Kreise.
Berühmte Maler aus früheren Jahrhunderten hätten einen männlichem Blick auf die weiblichen Models geworfen und sie auf ihren Bildern typisiert als Mütter, Verführerinnen oder sogar als Ungeheuer, wird moniert. Wohlverstanden, die Rede ist von Bildern grosser und berühmter Maler wie Leonardo da Vinci, Raffael, Rembrandt, Vermeer, Vincent van Gogh, Edvard Munch oder Gustave Courbet.
Martina Clavadetscher demonstriert in ihrem Buch beispielsweise den „männlichen Blick“ des Malers Gustave Courbet auf ein Frauenporträt aus dem Jahr 1866. Das Bild zeigt eine Frau mit entblösstem Geschlechtsteil und mit nackter Brust. Der Titel des Bildes heisst „L’Origine du monde“, also „Der Ursprung der Welt“.
Das Bild gibt Anlass zu einer ausufernden Diskussion: Ist das nun versteckte Pornographie? Hat der Maler das Bild, den Frauen-Akt, gemalt zur Befriedigung des männlichen Voyeurismus? Die Meinungen darüber dürften weit auseinandergehen. Was aber mag wohl die porträtierte Frau auf diese Fragen geantwortet haben?
Autorin Martina Clavadetscher lässt das Model auf dem Bild des Künstlers Gustave Courbet auf diese Fragen antworten. Sie verleiht der Porträtierten eine Stimme. Die Autorin hat recherchiert und dabei herausgefunden, wer das Model auf dem Bild tatsächlich gewesen ist. Und sie hat das Model auf dem Bild sprechen lassen.
Und was sagt das porträtierte Model, es handelt sich um Constance Quéniaux, selbst zur Frage, ob ihr Porträt versteckte Pornographie sei?
„Wie lachhaft! Wenn man bedenkt, dass alle, die diesen Anblick verbieten wollen, einem solchen Schoss entsprungen sind. (…) Zugegeben, die Männer meinten es immer gut mit mir. Sie haben mich ein Leben lang angeschaut und angefasst. Männer haben mir mein Leben bezahlt. Aber gelebt habe ich es mit Frauen.“
Aus: „Vor aller Augen“ von Martina Clavadetscher, S. 143
Die porträtierte Mme Constance Quéniaux gesteht, sie habe ja im Ballett der Pariser Oper getanzt und habe den Männern da und auch in den Schlafzimmern Geschenke gemacht. Ein Pascha aus Ägypten habe ihr Glück gebracht, er habe sie vom Künstler Gustave Courbet malen lassen.
Also alles in bester Ordnung? Haben sich die Models auf den Bildern berühmter männlicher Maler freiwillig und gern porträtieren lassen? Nein, so einfach ist es nicht. Die Diskussion darüber ist widersprüchlich. Einerseits waren die Models auf den Bildern einverstanden und hatten keine Vorbehalte, sich von berühmten Malern porträtieren zu lassen.
In ihrem faszinierenden Buch „Vor aller Augen“ thematisiert die Autorin aber auch den männlichen Blick auf die Bilder. Der Künstler habe die Frauen auf ihre Körperlichkeit reduziert und anonymisiert. Denn die Models sind ohne Namen auf den Porträts verewigt worden, unter dem Bild steht jedoch der Name des männlichen Malers, der Name von da Vinci, von Van Gogh, von Rembrandt oder wie sie alle heissen mögen.
So gesehen, zeigt „Vor aller Augen“, das Buch von Martina Clavadetscher, die männliche Dominanz in der Kunstgeschichte.
Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig