Ukrainische Flüchtlinge und ihre Literatur

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Was hat die Literatur der Politik zu sagen? (Copyright-Foto: Kurt Schnidrig)

Die Ukraine hat eine reiche literarische Szene und Protagonisten, die schon seit langem vor einem Krieg und vor einer realen Bedrohung für ukrainische Familien und für ukrainischen Grund und Boden warnen. Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch warnt seit Jahren vor einem russischen Angriff auf die Ukraine. Am Literaturfestival Leukerbad hatte ich den ukrainischen Autor Sasha Filipenko getroffen, der als „Writer in Residence“ im waadtländischen Montricher lebt. Er zeigte sich überhaupt nicht überrascht von der Eskalation in der Ukraine. Er ist der Meinung, dass Präsident Putin den Bezug zur Realtät verloren habe, und dass das einzige Ziel Putins darin bestehe, Macht zu erhalten, und zwar über so viele Gebiete wie nur möglich.

Die Vorteile eines Buchs gegenüber den täglichen Berichten und Reportagen aus dem Kriegsgebiet sind mannigfach. Mit einem Buch bekommt man als Leserin oder als Leser die Zusammenhänge besser mit. Ein Buch liefert auch meistens die nötigen Hintergrund-Informationen und idealerweise ist ein Buch aus mehreren Perspektiven geschrieben. Soeben erschienen ist beispielsweise im Rotpunkt-Verlag das Buch „Ostukraine – Europas vergessener Krieg“ von André Widmer. Das Buch versammelt Reportagen aus dem zurzeit hart umkämpften Osten der Ukraine, aus dem Donbass. Der Autor hat wichtige Schauplätze besucht. So zum Beispiel den von russischen Truppen arg bombardierten Flughafen Donezk, aber auch von der Umwelt abgeschnittene Dörfer. Der Autor Widmer hat das Gespräch gesucht mit Zivilisten, die noch immer an der Frontlinie wohnen, und er hat sich auch mit Geflüchteten unterhalten. Der Autor hat sich mutig mit Kämpfern an der Front ausgetauscht, und er ist zu den Freiwilligen in die Schützengräben gestiegen. Diese immense Recherche-Arbeit erlaubt den Lesenden eine Gesamtschau dessen, was im Kriegsgebiet vor sich geht.

Literaten und ihre Bücher haben eine Brückenfunktion zwischen den kriegführenden Parteien. Der Schriftsteller Nikolai Gogol hat seit dem 19. Jahrhundert eine Brückenfunktion zwischen der ukrainischen und der russischen Kultur inne. Sowohl in der Ukraine als auch in Russland steht Gogol auf dem Lehrplan der Schulen. Die Ukrainer reklamieren Gogol als einen der ihren, weil er in seinen Werken eine eigenständige Kultur abbildet. Russische Schülerinnen und Schüler feiern Gogol, weil er im damaligen Zaren-Reich seinen geistigen und schriftstellerischen Kosmos gehabt hatte. Gogols Werke werden auch heute noch gelesen. Darin setzt Gogol der russischen Ernsthaftigkeit eine befreiende Komik entgegen. In unseren Schweizer Gymnasien steht Gogols Komödie „Der Revisor“ auf dem Lehrplan. Der ukrainische Präsident Selenski ist von Haus aus Komiker, und damit ist er eine typische ukrainische Gogol-Figur, die Grosses schaffen und Bedeutendes erreichen kann.

Heutige ukrainische Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit Brückenfunktion sind zurzeit gefragt. Die Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk verbindet in ihrem Roman „Blauwal der Erinnerung“ die Geschichte eines ukrainischen Volkshelden mit dem Liebesleben einer Schriftstellerin. Aus der hart umkämpften Hafenstadt Mariupol stammt die Autorin Natascha Wodin. Sie arbeitet als Übersetzerin aus dem Russischen und lebt zeitweise auch in Moskau. Beinahe prophetisch schreibt der ukrainische Autor Andrej Kurkow. In seinem Roman „Graue Bienen“ erzählt er davon, wie ein kleiner Mann sein Dorf und seine Bienen heil durch einen Krieg bringen möchte, den er für ganz und gar unsinnig hält.

Hören Sie den Podcast aus der Sendung „Literaturwälla“ im Live-Programm von rro zum Thema „Ukrainische Flüchtlinge bei uns und ihre Literatur“. (Quelle: rro / Kurt Schnidrig / Joel Bieler)

Text, Foto und Radiosendung: Kurt Schnidrig