Pflegefachmann Stephan Rey über „Segen & Fluch ADHS“

on
Autor Stephan Rey (rechts) und Nadia Di Vincenco stellten sich in der Zuckerpuppa in Naters den Fragen von Kurt Schnidrig. (Bild zvg)

Der Stresslevel steigt, in Restaurants, auf der Strasse, im Flugzeug. Sind Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität dafür verantwortlich? Hat nicht fast jede(r) von uns ein wenig ADHS?

Pflegefachmann Stephan Rey vertrat kürzlich in Naters eine These, die uns alle aufschrecken müsste. In seinem Buch „Fluch & Segen ADHS“ geht er der Frage nach, ob nicht wir alle einem „Digitalen-Stress-Syndrom“ zum Opfer fallen. Nicht wenige Zeitgenossen seien zunehmend unhöflich, fordernd, teilweise auch beleidigend und aggressiv, wird berichtet.

Stephan Rey weiss, wovon er in seinem Buch schreibt. Geboren 1968 wuchs er auf dem Land auf und erhielt erst mit 45 Jahren die Diagnose ADHS. Die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung war damals noch wenig bekannt und wurde als eine Beeinträchtigung angesehen, der man durch die richtige Erziehung beikommen könne.

Kann ADHS entgegen landläufiger Meinung auch erworben werden? Stephan Rey ist dieser entscheidenden Frage auf den Grund gegangen. Immer noch gibt es Fachleute, die meinen, ADHS sei voll und ganz vererbt. Andere Fachleute sind der Meinung, dass ADHS nur zu 80 Prozent vererbt wird. Die restlichen 20 Prozent wären erworben.

Anknüpfend an diese Theorie befürchtet Stephan Rey in seinem Buch, dass der erworbene Anteil in den nächsten Jahren für eine Zunahme der Diagnosen sorgen werde. Es würden dann mehr Menschen geben, die unruhig und nervös sind und die man mit Ritalin und einer Therapie zu behandeln versuchen werde.

Können unsere Kinder in 20 Jahren noch lesen? Die Alarmrufe von Fachleuten, dass Kinder in 20 Jahren kaum noch werden lesen können, sind unüberhörbar. Kinder können sich kaum noch konzentrieren. Stephan Rey ortet eine wichtige Ursache in der Beobachtung, dass unsere Schulen die Kinder allzu sehr in Richtung der digitalen Welt steuern. Einer neuesten Untersuchung zufolge werden die ADHS-Diagnosen in Zukunft massiv ansteigen.

In Israel, welches als Vorreiter gilt, wurden von 500‘000 Kindern und Jugendlichen bereits fast 15 Prozent ADHS diagnostiziert. Handy und iPad sollen dafür eine Mitverantwortung tragen. In den Niederlanden gilt ab 2024 ein Verbot für Smartphones, Handys, iPads, Smartwatches für den privaten Gebrauch an den Schulen. Der Gebrauch soll sogar in den Pausen auf dem Schulareal nicht mehr erlaubt sein.

Ein „hybrider Unterricht“ müsste Eingang finden in unseren Schulen: Offline-Aktivitäten in den Schulen sollten wieder einen hohen Stellenwert erhalten. Laptop und iPad werden nur noch da eingesetzt, wo es sinnvoll ist.

Und trotzdem: Die Behandlung eines Menschen mit einer Aufmerksamkeits-(Hyperaktivitäts-)Störung kann nicht zum Ziel haben, alle Auffälligkeiten durch Therapie und medikamentöse Behandlung zum Verschwinden zu bringen. Es soll auch nicht darum gehen, Menschen zu ständig aufmerksamen, sanften oder gar temperamentlosen Menschen umzuformen.

Die positiven Eigenschaften von ADHS zu erkennen und diese in die Lebensgestaltung einzubinden, dürfte ebenfalls zu den künftigen Herausforderungen gehören. Denn trotz der Tatsache, dass ADHS als „Erkrankung“ beschrieben und diagnostiziert ist, erfreuen sich Betroffene besonderer Fähigkeiten und Eigenschaften. Dazu gehören: Sensibilität, Neugierde, ein ausgesprochener Gerechtigkeitssinn, Fantasie, Empathie, Kreativität, Dynamik, Flexibilität und sozial-emotionale Komponenten.

Literaturangabe. Stephan Rey: Fluch & Segen ADHS. Cameo Verlag GmbH, 202 Seiten.

Dieser Text erschien auch bereits im Online-Portal von pomona.media / rro

Text, Bild und Radiosendung: Kurt Schnidrig