Was soll man bloss tun, wenn der letzte Schnee schmilzt, wenn die Feriengäste ausbleiben und wenn der Feierabend auf sich warten lässt? Das fragen sich Paul und Georg, zwei alternde Skiliftangestellte im Bündner Oberland. Paul und Georg sind die beiden Protagonisten in der Erzählung „Der letzte Schnee“ des Autors Arno Camenisch. Nach den grossen Schneefällen dieses Winters wirkt die Geschichte über den letzten Schnee zwar etwas deplatziert, aber nur auf den ersten Blick. Denn eigentlich geht es in dieser Geschichte nicht bloss um den Schnee, der aufgrund des Klimawandels verschwindet. So wie der Schnee und wie die Gletscher, so verschwinden auch die Menschen aus den Bergtälern. Und mit den Menschen schwindet auch die Hoffnung auf eine Existenz in der kargen Bergwelt.
So stehen denn zwei herrlich originelle Angestellte allein an einem Skilift. Tagelang stehen sie da vor ihrer Hütte und warten auf Gäste oder auf sonst irgendwer. Sie warten und warten. Sie warten darauf, dass endlich irgendetwas passiert. Der Alltag des fast zwanghaft ordentlichen Georg und des fantasievollen Schwärmers Paul ist monoton und langweilig. Und so unterhalten sie sich darüber, dass alles verschwindet, und dass nichts mehr so ist wie früher.
Zu zweit allein am Skilift, da bleibt nur der Tratsch, das Quatschen, das Zwiegespräch übrig, um die Zeit totzuschlagen. Georg und Paul analysieren die Kapriolen des Wetters genauso wie die Glücks- und Unglücksfälle des gelebten Lebens. Längst vergangene Episoden ihres Lebens erwecken vergangene Glücksgefühle als Kontraste zur tristen Gegenwart. Wie war das mit dem ersten Kuss? Wie war das, als das Farbfernsehen erstmals die grosse weite Welt schillernd in die gute Stube holte?
Wenn man wartet und sich langweilt ist man halt nicht so gut drauf. Dann nervt es, wenn die im Radio immer so gut drauf sind. „Dass die immer so gute Laune im Radio haben, sagt der Paul und stellt zwei Böckli vor dem Hüttli in den Schnee, er legt seine Ski drauf, da bekommt man fast ein schlechtes Gewissen, wenn man selber mal nicht so lupfig drauf ist. Copferteckel, wo habe ich nur mein Schurnal gelassen, sagt der Georg und tastet seine Taschen ab. Aber im Radio muss man halt die Emozioni zähmen, kannst dir ja nicht leisten, dass es dir mal den Deckel lupft, das ist wie bei der Skilehrerei auch, sonst rennt dir die Kundschaft davon, sagt der Paul und wischt mit einem Lumpen über den Belag seiner Blizzard…“ (Der letzte Schnee, S. 67).
Die beiden Skiliftangestellten verkürzen sich die Zeit mit allerlei mehr oder weniger sinnlosen Tätigkeiten: ein Info-Schild montieren, ein Funkgerät testen, das im Natel-Zeitalter sowieso niemand mehr braucht. Warten ist angesagt. Warten auf den Ernstfall, wie immer der auch aussehen mag. Warten auf die Feriengäste, warten auf den nächsten Schnee. Und während Georg und Paul warten, verschwindet alles, was Teil ihres Lebens in diesem engen Tal war: die Poststelle, der Dorfladen, die Dorfbeiz, das Skirennen an ihrem Lift. Alles verschwindet, es ist dies das Ende von allem, auch das Ende des Lebens in diesem Tal.
Was bleibt noch zu tun? „Gib mir sonst auch so ein Zigarettli, sagt der Paul, wenn alles vergebens ist, kann man auch ein Zigarettli rauchen. Der Georg streckt ihm eine Zigarette hin und der Paul zündet sie sich an. Die Wolken haben den Himmel eingedeckt. Sie stehen vor ihrem Hüttli und schauen in die Ferne, wie der Nebel das Tal erreicht und das Tal allmählich im Nebel verschwindet.“ (Der letzte Schnee, S. 99).
Zwei allein am Skilift. Sie warten. Warten auf Godot. „Coffertori, Godo kommt nicht“, meint Paul am Ende, „und Petrus, der Calöri, weigert sich schlichtweg, uns beizustehen.“
Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig