Das Leiden als Antrieb

Warum schreiben wir? Was treibt uns an? Marcel Eyer wartet mit einer überraschenden Antwort auf. Der Mensch handle nur unter dem Druck des Leidens, gibt er sich überzeugt. Und er formuliert pointiert: „Das Leiden hat den Menschen weiter gebracht als das Glück. Viele kreative Menschen sind nicht gesund.“ In seinem neuen Buch „Ketten“ illustriert er diese seine Lebensphilosophie mit Gedichten und Sätzen.

Man mag vielleicht schockiert sein, wenn man Marcel Eyer so reden hört. Doch Hand aufs Herz: Sind nicht die grössten und schönsten künstlerischen Werke unter einem riesigen Leidensdruck entstanden? Als Literat denke ich an die Trümmerliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich denke an Schriftsteller wie Borchert und Böll, die wohl einzig deshalb überlebt haben, weil ihnen das Leid und der Schmerz den Schreibstift in die Hand gedrückt haben. Die Biographien berühmter Schriftsteller sind diesbezüglich aufschlussreich. Und hat nicht auch Rainer Maria Rilke tausend Schmerzen gelitten, als er hoch über Siders in seinem Schlösschen Muzot die weltberühmten „Walliser Quartette“ zweisprachig zu Papier brachte? Die Liste der schmerzerfüllten Literaten und Künstler liesse sich endlos fortsetzen.

Wer schreiben will, der braucht einen Druck, komme dieser Druck nun von aussen oder von innen. Das Handwerk des Schreibens ist hart. Wem es zu gut geht im Leben, der hat kaum Wesentliches zu sagen. Stimmt diese These? Vielleicht. Jedenfalls sind Emotionen vonnöten, will man Leserinnen und Leser erreichen, berühren, bewegen. Marcel Eyer schreibt, das Leben gebe „dem Mensch als Treiber Schmerz und Überdruss / Dass er sich Linderung erdenken muss / Für seine Not / Sich und seine Umwelt / Ständig neu entwirft / Und umgestaltet / Hin zu einem andern (welchem?) Sein.“ (Ketten, S. 33).

Leben ist leiden und erdulden. Determiniert und vielen Zwängen unterworfen sei der Mensch, unfrei und gefangen, erläutert der Autor. Wir führen ein Leben in Ketten. Die Metapher der Ketten hat Marcel Eyer titelgebend für seine neuen Gedichte und Sätze gewählt. Er sieht keine Möglichkeit, diese Ketten noch in diesem Leben zu sprengen. Gefangen in einem Netz und fremdbestimmt von Zwangsabläufen „aus dem es kein Entrinnen gibt / Bin ich gleich mehrfach gefesselt / Und der Tod / Einzig möglicher Befreier.“ (Ketten, S. 25).

Nichts ist unser eigenes Verdienst. „Nichts / Was ein Mensch ist / Und wie er ist / Was er erreicht / Was er besitzt / Ist sein Verdienst.“ (Ketten, S. 12). Solcherlei Gedanken nähern sich dem Nihilismus eines Friedrich Nietzsche an. Ist denn nicht auch die Herausgabe eines Buches etwas Wunderschönes? Bei Marcel Eyers Worten erinnere ich mich an meinen verehrten Doktorvater, der mir zu meinen Studentenzeiten immer wieder in Erinnerung rief: Ein Kind zeugen, ein Haus bauen und ein Buch schreiben – das macht einen Menschen aus. Für Marcel Eyer ist sein Buch keine eigene Leistung, sondern vielmehr ein Plagiat. „Dieses Buch ist fremdgeschrieben / Hat eine zahlreiche Autorenschaft / Die Sprache wurde mir geschenkt / Das Wissen von Jahrhunderten mir zugetragen / Ich durfte mich bedienen / Und manches Angelernte / Später dann mein Eigen nennen / Mein Beitrag klein und unbedeutend / Ist kauen und verdauen / Des vorgedachten Wissens / Dann Wiederkäuerauswurf / Milch oder Kot.“ (Ketten, S. 53).

Wo bleibt aber die Lust, die Freude? Kann ein Mensch in einem solchen Tränental überhaupt leben, überleben? Ich habe Marcel Eyers Büchlein nach etwas Erfreulichem durchkämmt. Und – gottlob – ich bin fündig geworden. Zumindest sieht der Autor nicht nur die Schmerzen, sondern auch die Lust. Stöhnen lässt sich bei beidem. „Während die Einen / Vor Schmerzen sich winden / Und weinen und wimmern / In Betten / Zeitgleich die andern / Röhren und stöhnen / Und zucken vor Lust / Und Schreie der Schmerzen / Und Schreie der Lust / Vermischen / Dissonant / Zum Urton des Lebens.“ (Ketten, S. 74).

Man möchte dem Autor viel Glück wünschen. Das Glück ist auch bei ihm und in seinem neuen Büchlein vorhanden, wenn auch nur in homöopathischer Dosierung: „Früh / Den Tag / Beschliessen / Sich ausklicken / Die Lichter / Löschen / Stille werden / Das Hirn / Auf Standby / Stellen / Und schlafen / Schlafen / Traumlos tief.“ (Ketten, S. 43).

Marcel Eyers Erstling trug den Titel „Scherben“. Darin sah er die Welt lediglich als ein Chaos, er beschrieb eine Welt in Scherben und ohne einen gemeinsamen Nenner. Sein neues Buch heisst nun „Ketten“. Ketten halten zusammen. Ketten verbinden. Lässt sich da nun eine Entwicklung hineininterpretieren? Womöglich auch etwas Zuversicht und Vertrauen herauslesen? Die Leserin, der Leser mag selber entscheiden.

Text und Foto: Kurt Schnidrig

Literatur. Marcel Eyer: Ketten. Gedichte Sätze. Rotten Verlag AG, Visp, 2018. 107 Seiten.