Poeten-Striptease

Gehören die Dichter mit ihren Gedichten einer nostalgischen Vergangenheit an? Entsprechen Gedichte überhaupt noch dem Zeitgeist? Die Antwort lautet: Ja und Nein. Das Buch ist nur eine von vielen Ausdrucksformen des Gedichtes, und ja, Gedichte in Buchform lassen sich kaum mehr verkaufen. Ein Blick auf die deutschsprachige Lyrikszene zeigt aber eine ganz neue Tendenz auf. Es ist dies die Tendenz zu genreübergreifenden Arbeiten. Da wird getanzt, verfilmt, gepostet, choreografiert, collagiert und performt. Es sind dies entkleidete und verkleidete Gedichte. Ein faszinierender Poeten-Striptease. Das Gedicht ist in der Gegenwart angekommen.

Gedichte haben einen visuellen Charakter bekommen. Sie werden dargestellt, „performt“. Letztmals rezitierte ich Hermann Hesses Gedicht „Im Nebel“ auf einer Bühne (Bild). Das Gedicht war eingebettet in ein Rollenspiel und Alex Rüedi begleitete mich und das Gedicht auf seinem Saxofon.

Gedichte schärfen den Blick auf den Mikrokosmos. In einer Welt, die gegenwärtig sozial und ethisch neu strukturiert wird, decken poetische Texte und Gedichte darin Muster auf, die das gesellschaftliche Miteinander prägen. Das hört sich dann etwa so an: „ja, wir spielen niemanden, wir sind wir. und ihr seid ihr. ja, ihr spielt jemanden und ja, wir spielen niemanden, wir sind wir und ihr seid ihr. Spielregel #1.“ (Judith Nika Pfeifer, Gedicht „splitter“).

Lyrik ist ein Seismograph der Zeitströmungen. Es wird wieder politisch gedichtet. Es sind vor allem poetische Texte darunter, die sich mit den aktuellen Flüchtlingsströmen beschäftigen. Hier können lyrische Texte die verschiedenen Gefühlstemperaturen anzeigen. Etwas, was der journalistischen Berichterstattung und den Tageskommentaren völlig abgeht.

Was macht die aktuelle Lyrikszene glaubwürdig? Es ist dies vor allem die eigene Erfahrung von Welt. Autoren, die es schaffen, das Weltgeschehen gefiltert durch das eigene Sensorium mitzuteilen, haben auch heute ihr Publikum. Allerdings sind auch diese sogenannten „Selbsterfahrungstexte“ mittlerweile etwas ausser Mode gekommen. Moderne Dichter versuchen, eine Mitte zu finden zwischen der Gesellschaft und dem Ich. Sie umkreisen mögliche Lebensentwürfe ohne die eigene Position in den Vordergrund zu rücken.

Was ist ein gutes Gedicht? Lyrik ist heute wie früher zu allererst gutes Handwerk. Und dies hat nichts mit „Geschmackssache“ zu tun. Wenn Lyrik es schafft, komplexe Sachverhalte und abstrakte Gedankengebilde konzise und treffend auf den Begriff oder ins Bild zu bringen, dann hat sie eine grosse Chance, auch die Heutigen zu erreichen, zu berühren und zu bewegen. Dabei sind die Kriterien, die ein Gedicht druckreif und erfolgreich machen, dieselben wie auch schon in vergangenen Zeiten: 1. Formbewusstsein; 2. im Gedicht sollte mehr stehen, als die dazu verwendeten Wörter bezeichnen; 3. Kenntnis der Tradition; 4. Erkenntnisgewinn; 5. Sprachbewusstsein. (Christoph Buchwald in: Jahrbuch der Lyrik 2017. Verlagsbuchhandlung Schöffling & Co, 2017).

Selbstredend ist nicht alles erste Sahne, was derzeit zusammengedichtet wird. Jede Menge Eitelkeiten und schiefe Akkorde sind auch dabei. Wer literarisch nicht aus dem Vollen schöpfen kann, kann sich als Lyrikerin oder als Lyriker trefflich hinter abenteuerlichen Kunstwerken verstecken. Doch auch diesen kunterbunten Persönlichkeiten im Literaturbetrieb möchte man aufmunternd zurufen: Liebe Schreibtischtäter, macht auch damit weiter! Schreibt ohne Rücksicht auf Verluste! Schreibt, wie es euch gefällt! Und tut es mit Leidenschaft!

Die Leidenschaft ist es, die (literarische) Perlen erzeugt, ganz im Sinne des Dichterfürsten Goethe: „Die Flut der Leidenschaft, sie stürmt vergebens ans unbezwungene feste Land. Sie wirft poetische Perlen an den Strand, und das ist schon Gewinn des Lebens.“

Text und Foto: Kurt Schnidrig