Wer die Menschen kennenlernen will, muss Schlager hören. Zu dieser gewagten These versteigt sich der Literaturkritiker und Germanist Rainer Moritz in seinem Buch über Schlager. „Wenn bei Capri die rote Sonne…“, „Marmor Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht…“ – wer hat das nicht auch lauthals mitgesungen (ob alkoholisiert oder nicht, sei dahingestellt)? Das fragt der promovierte Germanist Rainer Moritz. Er war übrigens Cheflektor beim Reclam-Verlag. Und er leitet das renommierte Hamburger Literaturhaus. Wie dankbar bin ich meinem Kollegen Rainer Moritz! So kann ich mich endlich outen. Ich gestehe: Vor fünf Jahren war es, da durfte ich solo – mit der Unterstützung eines 40-köpfigen Frauenchors – im Rahmen des Musiktheaters „Emotionen“ im La Poste in Visp meinen geliebten Elvis-Presley-Song mit dem Titel Can’t Help Falling in Love singen (Bild oben). Dabei ist es nicht nur der Bariton von Elvis, der mir schmeichelt. Da steckt mehr dahinter. Unsere geschundene und fantasielose Welt braucht diese Heile-Welt-Sehnsucht.
Lebhafte und blumige Texte. Vor allem die Begleittexte in einer lebhaften und blumigen Sprache haben einen grossen Einfluss auf den Musikgenuss. Das hat soeben eine Studie des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt herausgefunden. Der Befund holt die Schlager-Texte aus der kitschigen Versenkung, in der sie bis noch vor kurzem von Intellektuellen angesiedelt worden waren. In seinem Buch gibt Rainer Moritz, der Literaturkritiker und Cheflektor, gehörig Entwarnung: „Es ist eine wahre Kunst, Schlager zu schaffen, die mehr als eine Saison lang halten. Das Lied Marmor, Stein und Eisen bricht können Sie auf jeder Intellektuellen-Party singen.“ Ist denn ein Schlager ein Kunstwerk? Dazu nur eine Überlegung: Der Schlager macht unsere komplexe Welt verständlicher. Der Schlager hat nur drei Minuten Zeit, um uns so grosse Dinge wie die Liebe zu erklären. Deshalb muss der Schlager vor allem Klartext sprechen. In einem Schlager-Text von Christian Anders steht: „Ich habe gesagt, geh, wenn du willst, darauf bist du gegangen.“ Das sind nicht einmal ein Dutzend Worte. In einem Roman wären das mindestens 300 Seiten! Die einfache Liebesbotschaft im Schlagertext fasst „Die Kunst des Liebens“ von Erich Fromm populär zusammen, meint Howard Carpendale, und er singt „Hello, again!“, nachdem er lange Zeit von der Bildfläche verschwunden war, und glaubt, dass alle Frauen in der Zwischenzeit nichts Besseres zu tun gehabt hätten, als auf ihn zu warten.
Schlager mit historischer Dimension. In unseren Geschichtsbüchern steht leider nichts zur gesellschaftlichen Bedeutung des Schlagers. Allerdings diente der Schlager den Machtmenschen und Diktatoren nicht selten auch zur eigenen Profilierung. Während der unseligen Zeit des Dritten Reiches wurden im Radio sogenannte Durchhalteschlager rauf und runter gespielt. Etwa „Davon geht die Welt nicht unter“ mit Zarah Leander. Besonders in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit boomte der Schlager. Gegen die Aufsteiger des Wirtschaftswunders sang unser Schweizer Hazy Osterwald: „Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt“. Auch Reinhard May, der ja eigentlich aus der Liedermacher-Ecke kommt, gelang der eigentliche Durchbruch erst mit einem klassischen Schlager: „Über den Wolken, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“. Oder gehen wir zurück bis in die 60er-Jahre, da löste die 68er-Bewegung auch in der Schlager-Branche ein Problembewusstsein aus. Da tauchten plötzlich Drogentote in Schlagertexten auf: „Am Tag, als Conny Kramer starb“, sang Juliane Werding.
Schlager mit nationalkonservativen Tendenzen. Nicht ungefährlich ist das Nationalkonservative, dessen sich der Schlager zuweilen dezent bedient. Die SVP in der Schweiz denkt darüber nach, mit Gölä den Wahlkampf zu begleiten. Die AfD in Deutschland liebäugelt damit, Helene Fischer in den Wahlkampf einzubinden. Scharfe Kritik muss derzeit Andreas Gabalier einstecken. Die Texte des Sängers werden vielerorts als rechtspopulistisch, sexistisch und homophob erachtet. Gabalier hätte mit dem Karl-Valentin-Orden ausgezeichnet werden sollen. Dagegen erhob gar der Münchner Oberbürgermeister Einsprache. Und die Familie Valentins liess ausrichten: „Es ist nicht hinzunehmen, dass Gabalier mit seinem offenkundigen Spiel mit faschistischen Symbolen wie dem nachgestellten Hakenkreuz auf dem CD-Cover, seiner Frauenfeindlichkeit und seiner Homophobie mit dem Namen Karl Valentins in Verbindung gebracht wird.“
Ein Bild der Gesellschaft. Der Schlager erzählt viel über gesellschaftliche Tendenzen. Zwar ist auch das moderne Schlager-Arrangement textlich auf Herz, Schmerz, Wolken und Sehnsucht ausgelegt. Schlager-Experte Rainer Moritz schätzt die Heile-Welt-Lieder auf etwa 80 Prozent. Heute jedoch müssen die Lieder vermehrt auch darauf Rücksicht nehmen, dass die Scheidungsquoten steigen. Andrea Berg singt Trennungslieder. Und sie singt auch von Lug und Trug im Liebesleben. Noch bis vor kurzem eroberte sie die Bühne in nuttigem Outfit mit Strapsen und sang: „Du hast mich tausendmal belogen“ und „Geh doch, wenn du sie liebst“, oder gar „Diese Nacht ist jede Sünde wert“. Nun ja, um erfolgreich zu bleiben, muss der Schlager auf gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen reagieren.
Emotional berührend. Einprägsame Lieder bleiben dir ein Leben lang treu, meinte einst die Schauspiel-Legende Manfred Krug. Sie sind Erinnerungspillen. Stellen Sie sich vor, Sie bekommen Ihren ersten Kuss von Ihrem Schwarm, und im Hintergrund läuft Can’t Help Falling In Love von Elvis Presley. Es wird dann immer dieses Lied mit dieser Lebenssituation verbunden bleiben. Ob es nun ein klassisches Stück ist oder ein seichter Schlager.
Text und Foto: Kurt Schnidrig